Fehlinformationen verstehen: unsere Gesellschaft, unsere Technologie, wir selbst

Kommentar

Das Internet ist zum perfekten Nährboden und Verbreitungssystem für alle Arten unwahrer und falscher Behauptungen geworden, was zum Teil auf seine bloße Geschwindigkeit und den Umfang der in ihm enthaltenen Informationen zurückzuführen ist. Die Zivilgesellschaft und die Regierungen richten den Fokus auf die Erhöhung der Medienkompetenz und üben Druck auf Technologie-Unternehmen aus, ihre Strategien zu ändern, aber was können die Menschen und Technologienutzenden selbst angesichts der vielen Fehlinformationen tun?

Die Meldung auf Facebook beginnt mit der in Großbuchstaben geschriebenen Behauptung: „SIE NEHMEN EUCH DIE KINDER WEG UND & IHR KÖNNT NICHTS DAGEGEN TUN“ und endet mit der Anweisung: „Kopiert und verbreitet dies, um andere darauf aufmerksam zu machen.“ Dieser Post und viele ähnliche Versionen mit der Aussage, dass Kinder mit Symptomen von COVID-19 auch ohne Zustimmung der Eltern für 14 Tage unter Quarantäne gestellt werden könnten, ging im August 2020 in den USA viral. Einiges wies darauf hin, dass die Botschaft nicht in den USA selbst entstanden war. Tatsächlich war die ursprüngliche Quelle für die Behauptung ein Brief, in dem die Kinderbeauftragte für England bereits im März ihre Sorge zum Ausdruck gebracht hatte, dass Kinder im Rahmen des gerade in Großbritannien verabschiedeten Corona-Gesetzes in Gewahrsam genommen werden könnten. Ohne Bezug auf die Intentionen der Kinderbeauftragten wurde ihre Aussage verzerrt, übertrieben und überspitzt, als sie sich unter Facebook-Gruppen bis hin nach Kanada verbreitete. Warum ist gerade diese Fehlinformation so derartig in Umlauf gekommen? Vielleicht, weil sie viele unserer schlimmsten Ängste in unseren derzeitigen Lebensumständen ansprach – vom Misstrauen gegenüber der Regierung bis hin zur Angst um die Gesundheit und Sicherheit unserer Kinder.

Infokalypse

Das Internet ist zum perfekten Nährboden und Verbreitungssystem für alle Arten unwahrer und falscher Behauptungen geworden, was zum Teil auf seine bloße Geschwindigkeit und den Umfang der in ihm enthaltenen Informationen zurückzuführen ist. Im heutigen digitalen Ökosystem zirkulieren die von Bots verbreiteten Desinformationen neben gefährlichen Behauptungen über das Coronavirus und Meme vermischen sich mit Verschwörungstheorien. Mit welchen Begriffen man unsere Informationsumwelt auch beschreibt – „Infokalypse", „Informationsverschmutzung“, „Informationssuppe“, „Informationskrieg“ oder „Infodemie“ – sicher ist jedenfalls, dass sie genau wie unsere globale Umwelt in einer Krise steckt, die sich schneller entwickelt als menschliche oder technologische Lösungen.

Die Zivilgesellschaft und die Regierungen richten den Fokus auf die Erhöhung der Medienkompetenz und üben Druck auf Technologie-Unternehmen aus, ihre Strategien zu ändern, aber was können die Menschen und Technologienutzenden selbst angesichts der vielen Fehlinformationen tun? Um das Problem anzugehen, müssen wir zunächst einmal die Rahmenbedingungen verstehen, die dafür sorgen, dass die Fehlinformationen nicht nur in unsere Gesellschaft und in unser Informationsökosystem eingespeist werden können, sondern sich auch in uns selbst breitmachen. Das heißt, man muss die psychologischen, sozialen und politischen Gründe analysieren, die dazu führen, dass Fehlinformationen in die Welt gesetzt, in Umlauf gebracht und geglaubt werden. Daneben müssen auch die technologischen Strukturen unseres Informationssystems untersucht werden, die es ermöglichen, dass diese Fehlinformationen sich so leicht ausbreiten können.

Die Krise als Nährboden für Zweifel und Fehlinformationen

In gewisser Hinsicht sind wir psychologisch prädestiniert, für Fehlinformationen anfällig zu sein: Wir neigen von Natur aus dazu, nach Informationen zu suchen, die unserer Weltanschauung entsprechen, und meiden oder diskreditieren Informationen, die nicht zu unserem Weltbild passen. Und in Zeiten von Krisen und Ungewissheit sind wir besonders empfänglich für falsche oder irreführende Behauptungen. Die Wissenschaftlerin Emily Bell erklärt: „Damit sie [Desinformationen] tatsächlich eine Wirkung entfalten können … braucht es Menschen, die anfällig für Zweifel sind, die kein Vertrauen in das haben, was ihnen gesagt wird, oder die einfach nur andere Antworten wollen, weil die wahre Antwort für ihr eigenes Leben nicht förderlich ist.“ Die Pandemie hat diese Bedingungen weltweit geschaffen. Der alarmierende Facebook-Post, dass Kinder unter Quarantäne gestellt werden könnten, offenbart noch einen anderen wichtigen psychologischen Aspekt hinter unserer Anfälligkeit für Fehlinformationen – nämlich, dass eine Information – wahr oder nicht – sich häufiger ausbreitetet oder geteilt wird, wenn sie Gefühle wie Angst oder Ärger auslöst – Gefühle, die sich Informationslieferanten leicht zunutze machen können. Zudem können unsere emotionalen Reaktionen, ganz zu schweigen von der Fülle an Informationen, mit denen wir konfrontiert sind, uns davon abhalten, die Fakten zu überprüfen oder uns die gelesenen Nachrichten und Meldungen genauer anzusehen. Stattdessen nutzen wir vielleicht sogenannte „kognitive Shortcuts“ (Abkürzungen), um eine Information auf Wahrheit zu überprüfen, indem wir beispielsweise feststellen, ob uns bekannte Leute die Information bestätigt haben, statt zu versuchen, bei jeder Nachricht, jedem Video und jeder Schlagzeile selbst die Fakten zu überprüfen.[1]Neben unserer individuellen Motivation, Fehlinformationen Glauben zu schenken, sind es die gegenwärtigen sozialen und politischen Krisen, die ein Umfeld schaffen, das reif für die Verbreitung von Falschinformationen ist. Studien zeigen, dass unser Vertrauen in die Medien weltweit abnimmt. Aus neueren Untersuchungen geht hervor, dass die Verbreitung von Fehlinformationen über das Internet dieses Misstrauen gegenüber den Medien paradoxerweise sogar noch verstärkt. Gleichzeitig ist es zu einer Strategie von vielen politisch Tätigen und den sie Unterstützenden geworden, Fehl- und Desinformationen zu schaffen und zu verbreiten. Ein Bericht von 2019 fand Belege für organisierte Manipulationen über die sozialen Medien in 70 Ländern – Manipulationen, die mit Regierungen oder politischen Parteien verknüpft waren. Außerdem bedienen sich die politisch Tätigen einer Taktik, die als „firehose of falsehood“ (Feuerwehrschlauch der Falschheiten) bezeichnet wird (bzw. wie Steve Bannon es ausdrückte: „flood the zone with shit“). Die Taktik besteht darin, die Öffentlichkeit über eine Vielzahl an Kanälen mit einer solchen Menge an gegensätzlichen, widersprüchlichen und ungenauen Informationen zu bombardieren, dass es unmöglich wird, Wahres und Unwahres auseinanderzuhalten. Diese Strategie wird zwar am häufigsten Wladimir Putin zugeschrieben, aber sie ist in Kampagnen von Politikern weltweit zu beobachten – von Jair Bolsanaro über Rodrigo Duterte bis hin zu Enrique Pena Nieto. Die Strategie wird nicht nur für den Machterhalt eingesetzt, sondern auch dazu, in jeder Art von Information Zweifel und Unsicherheit zu säen, was schließlich zu einer Art Ermüdung oder der Überzeugung führt, dass die „tatsächliche Wahrheit“ nie herauszufinden ist.

Wenn die Machthabenden mehr und mehr bereit sind, Desinformationen als Waffe zu nutzen, und immer weniger bereit sind, sich von Fehlinformationen zu distanzieren, dann verbindet sich das mit der Struktur unseres gegenwärtigen digitalen Informationsökosystems und erzeugt einen perfekten Sturm an Fehlinformationen. Während das Internet und die sozialen Medien die Geschwindigkeit und den Umfang aller Informationen erhöhen, die geteilt werden und zugänglich sind, werden über die Plattformen der sozialen Medien mehr Unwahrheiten als Wahrheiten verbreitet. Aus einer Studie ging hervor, dass unwahre Inhalte auf Twitter mit einer um 70 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit weitergegeben werden als wahre Meldungen. Zudem liefert unser Informationsökosystem Meldungen in allen Arten von Verpackungen und aus vielen Richtungen: Eine irreführende Nachrichten erscheint vielleicht nicht immer unter einer Schlagzeile, die auf ihre Wahrheit überprüft werden kann; möglicherweise erreicht sie uns in Form einer WhatsApp-Nachricht von Freunden oder Familienangehörigen, über eine private Facebook-Gruppe oder über eine kurzlebige Instagram Story.

Es herrscht zunehmend die Ansicht, dass die Tendenz zur Zirkulation von Fehlinformationen auf diesen Plattformen in die Art und Weise eingebrannt ist, wie diese Technologien konzipiert sind, auch wenn das aufgrund der mangelnden Transparenz in Bezug auf die Algorithmen schwer zu beweisen ist. Forschungen darüber, wie die proprietären Algorithmen unsere News-Feeds bestimmen und uns Inhalte empfehlen, lassen darauf schließen, dass viele Social-Media-Algorithmen sensationslüsterne und provokative Inhalte verstärken und anpreisen, was Mark Zuckerberg auch zugegeben hat. Ein ehemals für YouTube arbeitender Techniker enthüllte zudem, dass der von ihm selbst entworfene Empfehlungsalgorithmus der Plattform Fehlinformationen begünstigt: „YouTube wirkt wie Realität, aber diese ist verzerrt, damit die Nutzenden mehr Zeit auf der Seite verbringen“, sagte Guillaume Chaslot gegenüber der britischen Tageszeitung The Guardian und erklärte weiter: „Der Algorithmus ist nicht darauf ausgerichtet, die optimalen Empfehlungen für Inhalte zu geben, die wahr, ausgewogen oder förderlich für die Demokratie sind.“

Warum Fehlinformationen nicht aus dem Netz verschwinden

Wie erleichtert beispielsweise die Machart von Facebook die Zustellung einer Falschmeldung über Kinder, die möglicherweise unter Quarantäne gestellt werden könnten, an Tausende von Eltern, die sich vielleicht gerade genau darüber Sorgen machen und diese Sorge bereitwillig teilen? Dank der sozialen Medien sind Gruppen Gleichgesinnter bereits miteinander verbunden, was bedeutet, dass Fehlinformationen schnell neue Ziele finden. Und auf ähnliche Weise können Gruppen mit bestimmten Überzeugungen oder Interessen leicht identifiziert und anvisiert werden. Eine Studie von 2020 zeigt, dass Gerüchte und Falschmeldungen über COVID-19 auf Facebook häufiger angeklickt werden und schneller viral gehen als wahre Informationen. Zudem enthüllte die Studie, dass virale Fehlinformationen auf Facebook von einer relativ kleinen Gruppe von Konten ausgehen: Von nur 42 Facebook-Seiten generierte falsche Gesundheitsinformationen wurden schätzungsweise 800 Mio. Mal angeklickt. Die Möglichkeit, dass eine Information über eine einzige Quelle verbreitet und dennoch – gewollt oder ungewollt – Millionen Menschen erreicht, ist nicht auf Facebook beschränkt. YouTube, Instagram und Twitter arbeiten auf dieselbe Weise: Eine Fehlinformation kann blitzschnell von politisch Tätigen, den Medien oder Influencern mit Millionen von Followern verstärkt werden.

Für alle, die Desinformationen verbreiten wollen, ist es auf den Social-Media-Plattformen leicht und zu relativ niedrigen Kosten möglich, ihre Meldungen an diejenigen zu richten, die sie am ehesten glauben werden, oder auch an diejenigen, die in ihren Überzeugungen noch unentschieden sind. Darüber hinaus erlauben es Google und Facebook den Verbreitern von Desinformationen, Tausende verschiedener Meldungen zu kreieren und zu verbreiten, um zu testen, welche davon die größte Zugkraft entwickeln. In den wenigen Fällen, in denen eine Social-Media-Plattform einen Post mit Fehlinformation entfernt, hat diese Fehlinformation in der Regel bereits eine riesige Nutzerschaft erreicht und kann ganz einfach auf andere Plattformen übertragen werden – von Reddit zu Twitter zu Instagram und immer weiter. Bisher sind die Bemühungen dieser Unternehmen, die Inhalte auf ihren Plattformen zu überprüfen und Fehlinformationen einem Faktencheck zu unterziehen, sehr durchwachsen. Es deutet sogar einiges darauf hin, dass gerade durch die Meldung, dass Posts auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden, diese noch häufiger angeklickt werden.

Wie können also Bürger und Bürgerinnen die Verbreitung von Fehlinformationen eindämmen? Wer je versucht hat, jemandem aus dem Freundeskreis oder Familienangehörige davon zu überzeugen, das etwas, das sie online gesehen haben, nicht der Wahrheit entspricht, weiß, wie komplex das Problem ist und wie schwer es zu bekämpfen ist. Jede Lösung und jedes Gegenmittel muss alle drei zugrundeliegenden Aspekte des Problems ansprechen – den sozialen, den politischen und den technischen Aspekt. Wenn wir verstehen, wie sich Informationen – wahre oder falsche – online verbreiten, können wir das Problem jedoch auch aus einem weniger polarisierenden Blickwinkel angehen. Stellen Sie sich vor, Sie erklären Ihrem Onkel, wie Facebooks Algorithmen dafür gesorgt haben, dass er diese Werbung oder jene Schlagzeile gesehen hat, statt ihn zu belehren, warum diese Inhalte falsch sind. Es könnte zu schwierig sein, jeden Corona-Hoax oder alle politischen Meme zu entlarven, aber es kann sich hingegen als ein sehr hilfreiches Mittel erweisen, die Menschen über die hinter den Inhalten wirkende Technologie zu unterrichten oder zu informieren, wie sie überhaupt an diese Inhalte geraten sind und welche Kontrolle wir über diesen Prozess ausüben können.

Mehr darüber, wie sich Fehlinformationen im Internet verbreiten, ist in der Online-Ausstellung von Technical Tech mit dem Titel The Glass Room: Misinformation Edition nachzulesen. Einfache Tipps und Tricks, wie man Fehlinformationen erkennen und bekämpfen kann, finden sich in unserem Data Detox Kit.

 

[1]Nicholas David Bowman und Elizabeth Cohen, „Mental Shortcuts, Emotion, and Social Rewards: The Challenges of Detecting and Resisting Fake News“, in Melissa Zimdars und Kembrew McLeod (Hrsg.): Fake News: Understanding Media and Misinformation in the Digital Age, Cambridge: MIT Press, 2020, S. 223–233.