Ich! Ich! Ich! Menschenbild in der Ökonomie

„Was denkt Ihr eigentlich über Eure Mitmenschen?“, sollte man Ökonom_innen häufiger fragen. Jedenfalls sind negative Menschenbilder, die auf Konkurrenzdenken beruhen, die Ursache allen Übels. Darin waren sich die Referentin und Journalistin Ulrike Hermann (taz) und der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Sebastian Thieme (Hochschule Harz) einig.

 

Mit dieser Erkenntnis startete auch die Veranstaltung zu Menschenbildern in der Ökonomie. Nach einer dynamischen Anmoderation durch Franziska Wolters und Fabian Steenken startete Dr. Sebastian Thieme mit einem Vortrag zur wirtschaftlichen Ideengeschichte, gängigen Stereotypen und der ökonomischen Misanthropie. Er beschäftigte sich mit der wissenschaftlichen Disziplin der Volkswirtschaftlehre oder auch: Ökonomik. Eingängig und gruselig demonstrierte er am Beispiel der Armut, dass sich ein Blick in die Ideengeschichte lohnt. Vielleicht selbst wenn dies in wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen viel zu selten vorgenommen wird, vielleicht aber auch gerade weil dies der Fall ist. Denn Stereotype, die im 17. Jahrhundert entstanden, kommen auch heute in euphemistischen Redewendungen hervor und offenbaren das Leistungsdenken in der Ökonomik. Der Trend zur Mathematisierung und Modellierung von ökonomischen Konzepten soll dabei von dieser menschenverachtenden Weltsicht ablenken.

Ulrike Hermann, die zwar eine Ausbildung zur Bankkauffrau gemacht hat und Philosophie und Geschichte an der FU Berlin studierte, bezeichnet sich selbst am liebsten als Journalistin. In ihrem Vortrag über Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes machte sie klar, dass die Wurzel der Volkswirtschaftslehre in der Philosophie aber auch Mathematik liegt. Adam Smith war zu seiner Zeit ein eher linker Denker, der die Gesellschaft je nach Zugang zu Produktionsmitteln in funktionale Gruppen einteilte und Soziolog_innen damit vorweg griff. Seine Forderung nach gewerkschaftlicher oder betriebsrätlicher Organisation der Arbeitnehmenden machte Adam Smith zu einem Vordenker der Sozialdemokratie im 18. Jahrhundert. Fälschlicherweise wird er, der erst die Grundlage für Marx schafft, mit einer kleinen Textpassage aus „Wohlstand der Nationen“ (1776) aus dem Kontext gerissen. Stand die „unsichtbare Hand“ relativ am Ende seines Werks, wurde sie von Oskar Lange, einem aus Polen stammender Wirtschaftswissenschaftler, zur Begründung des freien Markts missbraucht. Wie politisch die Ökonomie ist, erfuhr auch der revolutionäre Marx, der nach seinem Frust der französischen Revolution Ökonom wurde. Er befand sich im 19. Jahrhundert in einem Deutschland, das ein Entwicklungsland war und übte vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit Kapitalismuskritik. Während Adam Smith und Karl Marx die Realwelt beobachteten und analysierten, hat John M. Keynes als Mathematiker nicht nur Derivate gekauft und spekuliert, sondern sich vor allem mit Geld beschäftigt. Keynes stellte schon im 19. Und 20. Jahrhundert fest, dass Finanzanleger vom Herdenverhalten profitieren, selbst wenn der Mainstream falsch läuft.

In der Podiumsdiskussion und nach Fragen aus dem Publikum wurde nicht nur in die Biografien führender Ökonomen (Anmerkung der Redaktion: Es sind einfach wirklich vor allem Männer) geschaut, sondern auch die massiven Auswirkungen der Mathematisierung der Ökonomik diskutiert und beleuchtet. Der Trend zur Modellierung und Mathematisierung in der VWL hat viel mit den Quereinsteigern aus der Physik und Mathematik zu tun, die in ihren eigenen Disziplinen schlecht waren und in der VWL nun punkten. Unter dem Deckmantel einer Naturwissenschaft mit natürlichen Gesetzen rechtfertig die Ökonomik eine Gesellschaftsordnung, die nur wenigen nutzt, argumentiert Herrmann. Früher wäre die Kirche dafür zuständig gewesen, schob sie eindrucksvoll nach.

Wirkten die Referentin Herrmann und der Referent Thieme auf den ersten Blick in ihrer Kritik der heutigen Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftswelt harmonisch, offenbarte sich ein Dissens in der Frage um Sinn oder Unsinn der Mikroebene der VWL. Die zwei Stränge in der VWL mit ihrer Vogelperspektive (Makroökonomik) und Froschperspektive (Mikroebene) befinden sich im ständigen Kleinkrieg. Stellte sich Herrmann auf die Schultern von John M. Keynes und argumentierte, dass man Gesellschaft und Wirtschaft in Aggregaten denken müsse, wand Dr. Thieme ein, es dürfe keine Wirtschaftswissenschaft ohne Menschen geben. Menschen und Haushalte müssten im Vordergrund von Analysen stehen.

Ulrike Herrmann übte zum Schluss heftige Kritik an der Ökonomik, als sie meinte, dass Ökonom_innen die Aufgabe „verpennen, die Transformation zu erforschen“. Daraufhin nahm Dr. Thieme seine Disziplin in Schutz und forderte lieber mehr Druck von der Studierendenschaft und von feministischen Ökonom_innen, die sich auch jenseits des Gender-Pay-Gaps äußern.

Entspannt aus dem Abend entließen uns Franziska Wolters und Fabian Steenken mit dem Versprechen, an dem Thema dranzubleiben und die Vorfreude auf alles, was das Netzwerk Plurale Ökonomik in Zukunft anstoßen wird.

Die Veranstaltung fand statt im Rahmen des Bündnis: GEW Hannover, SLU, Landesarmutskonferenz, Bildungswerk ver.di, Bildungsvereinigung Arbeit und Leben, IGM Hannover, ver.di Bezirk Hannover-Heide-Weser, DGB Bezirk Niedersachsen – Sachsen-Anhalt, Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen, Kooperationsstelle Hochschulen & Gewerkschaften Hannover-Hildesheim, Kulturzentrum Pavillon, Bildungszentrum Heimvolkshochschule Hustedt e.V.

Von Mona Hosseini (Stiftungsrätin der Stiftung Leben & Umwelt)