Das schlechte Neue oder das gute Alte?

Analyse

Dreizehn Jahre und 128 Tage haben Benjamin Netanjahu zum am längsten amtierenden Regierungschef Israels gemacht. Netanjahu übertrumpfte damit David Ben-Gurion, den ersten Premierminister Israels, der insgesamt dreizehn Jahre und 127 Tage dieses Amt bekleidete. Netanjahu diente als Regierungschef ohne Unterbrechung seit dem 31. März 2009, sprich: zehn Jahre und 111 Tage. Seine erste Amtszeit von 1996 bis 1999 dauerte zusätzliche drei Jahre und siebzehn Tage.

Das ganze letzte Jahr über – das erste Coronajahr – fanden Großdemonstrationen vor dem Amtssitz des Regierungschefs in der Balfour-Straße in Jerusalem statt. Junge und Alte, Juden und Araber, Rechte und Linke – unsere Forderung war klar und eindeutig: Netanjahu, ab nach Hause! Die Protestierenden beschuldigten Netanjahu der Korruption und der vorsätzlichen Schwächung von Exekutiv- und Rechtsorganen im Kampf gegen die gegen ihn anhängigen Gerichtsverfahren. Die Demonstranten protestierten dagegen, dass Netanjahu ungeachtet der gegen ihn laufenden Strafprozesse weiter im Amt blieb, und behaupteten unter anderem, er stelle die eigenen juristischen Interessen und sein persönliches Wohl über jene des Staates. Die Demonstrationen setzten sich auch während der Zeit der Lockdowns und Ausgangssperren, die im Kampf gegen eine Ausbreitung des Virus Bewegungsfreiheit und Versammlungsrechte der israelischen Bürger drastisch reglementierten, überall im Land weiter fort. Doch obgleich Woche für Woche Zehntausende landesweit mit aller Kraft und allem Einsatz gegen Netanjahu demonstrierten, war diese Zeit des Protestes bestimmt von dem permanenten Gefühl, wir seien die Gefangenen eines Alleinherrschers. Denn die gesamte Altersgruppe der Zwanzig- bis Vierzigjährigen unter den Demonstranten hat, seit sie wählen darf, so gut wie keine Erinnerungen an einen anderen Regierungschef. Daher fiel es so schwer, sich ein Israel ohne Netanjahu überhaupt vorzustellen. Sprüche wie „Netanjahu geht, wenn er gehen will“ durchkreuzten unsere geheimsten Gedanken, während wir uns vor seinem Amtssitz in der Balfour die Kehlen heiser schrien. Und so ein ganzes Jahr lang – protestieren aus schierer Notwendigkeit, aus Verzweifelung, demonstrieren - und nicht daran glauben.

Und dann geschah ein Wunder. (Lässt sich ein komplexer, minutiös und von langer Hand geplanter politischer Prozess überhaupt als Wunder bezeichnen? Offensichtlich ja!) Denn im Unterschied zu vielen ihrer Vorgänger gelang es Jair Lapid und Naftali Bennett eine Regierung zustande zu bringen. Eine aus acht verschiedenen Parteien gebildete Regierung. Wie verschieden? So verschieden, wie sie im polarisierten Israel des Jahres 2021 nur denkbar sind: Linke und Rechte, Laizisten und Religiöse, Juden und Araber sitzen zusammen in einer geradezu phantastisch anmutenden Koalition, die einer politischen Utopie entlehnt scheint. Und wir, Gefangene Netanjahus (sei es durch die Macht der Gewohnheit oder wider Willen), rieben uns die Augen wund. Die meisten begegneten dieser „Regierung der Veränderung“ abschätzig und voller Misstrauen. Wie soll eine solche Regierung denn überleben können? Wie sollen Menschen mit derart widersprüchlichen Überzeugungen und Ideologien an einem Tisch sitzen? Wie sollen dort schicksalhafte Entscheidungen getroffen werden? Wie sollen wir bloß ohne King Bibi leben?

Ich erinnere mich, dass ich all jene, die vehement solche und ähnliche Bedenken vorbrachten, ansah und dachte: da, das ist der eigentliche Schaden, den die Jahre unter Netanjahu angerichtet haben. Wir haben uns derart an einen starken Führer gewöhnt, der sich de facto wie ein Alleinherrscher aufführt, dass wir vergessen haben, was tatsächlich in gesunden, aktiven Demokratien gängige Praxis sein sollte. Und dieser Bewusstseinsschaden wird auch in der Post-Bibi-Ära bestehen bleiben. Richtig, die „Regierung der Veränderung“ wird durch eine sehr bunte Koalition gebildet, aber eine derart heterogene Regierung hat auch das Potential, dem politischen System Israels die Stärke einer voluntarischen Regierungszusammenarbeit von Parteien zurückzugeben, die unterschiedliche Teile der Bevölkerung vertreten. Man sollte in diesem Zusammenhang vielleicht einfach einmal an die Schweiz erinnern, einer der Prototypen einer konstitutionellen, direkten Demokratie, wo zurzeit ebenfalls eine sehr heterogene Regierung an der Macht ist, die aus der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (die auch den amtierenden Bundespräsidenten stellt), den Liberalen, der Christlichdemokratischen Volkspartei und den Sozialdemokraten gebildet wird. Käme jemand auf die Idee, auch dort von einem Wunder zu reden? Einer optischen Täuschung? Wenn in der Schweiz die Arbeit einer aus mehreren, sehr unterschiedlichen und sogar miteinander rivalisierenden Parteien gebildeten Regierung erfolgreich funktioniert, warum sollte dies nicht auch bei uns in Israel möglich sein? Und ich bin sicher, nicht wenige von Ihnen werden sich angesichts meines Vergleichs mit der Schweiz ein Lächeln nicht verkneifen.

Doch ich bleibe dabei, die „Regierung der Veränderung“ birgt eine große Hoffnung für die Bürger Israels, eine wenn auch vielleicht überzogene, dramatische und pompöse Hoffnung. Was letztlich über den Erfolg dieser Regierung entscheiden wird, ist nicht ideologischer Gleichklang, sondern das Verhalten jedes und jeder Einzelnen, das sich von öffentlicher Verantwortung und persönlicher Demut leiten lassen sollte. Fürs erste auf jeden Fall wirkt das Unterfangen vielversprechend, und selbst wenn wir eines Besseren belehrt werden sollte, muss ich immer an Berthold Brechts Maxime denken, der das „schlechte Neue“ stets dem „guten Alten“ vorzog. Denn das ist die Quintessenz, ist, worum es geht – immer den Blick auf die Gegenwart haben, das Jetzt, das sich verändern und verbessern lässt.

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

Zuerst erschienen in der Berliner Zeitung.