Warum es eine sozial gerechte und intersektionale Verkehrswende braucht

Kommentar

Vergesst Hyperloops und Flugtaxis! Die Zukunft der Mobilität braucht einen sozial gerechten und inklusiven Wandel, weg von der autogerechten Planung hin zu menschenzentrierten Räumen. In diesem Text wirft Katja Diehl einen kritischen Blick auf die bisherige Verkehrspolitik, betont die Notwendigkeit einer gendersensiblen Verkehrsplanung und plädiert für eine Mobilität, die die Bedürfnisse aller berücksichtigt, um eine nachhaltige und gerechte Zukunft zu gestalten.

Lesedauer: 8 Minuten

In diesem Jahr verzeichnet der Verkehrssektor erneut steigende CO2-Emissionen, während alle anderen Sektoren auf einem (wenn auch nicht vorbildlich guten, so doch klaren) Weg der Reduzierung sind. So wie im von der Bundesregierung unterzeichneten Pariser Klimavertrag und im deutschen Klimaschutzgesetz festgeschrieben. Leider wurden die Sektorenziele aufgehoben. Das sind jene Ziele, die den einzelnen Sektoren von beispielsweise „Industrie“ über „Gebäude“ bin hin zu „Verkehr“ eigene Zielkorridore vorgeben, die der Bundesverkehrsminister Volker Wissing bislang weit entfernt ist zu erreichen. Woran liegt das? An einem falschen, weil technischen und autoaffinen Blick auf Mobilität. Was wäre stattdessen notwendig? Darum geht es hier.

Die Ausgangslage: männlich dominiert

Es ist egal, welchen Bereich von Mobilität wir anschauen: Auto- und Fahrradindustrie, aber auch der Nah- und Fernverkehr sowie die Planung von Mobilität in Ämtern, Behörden und Ministerien haben ein Diversitätsproblem. Gerade mal 22 Prozent der im Verkehrssektor Arbeitenden sind weiblich – und damit haben 78 Prozent eine männliche Sicht auf Mobilität. Nicht aus Bosheit, sondern aus der eigenen Erfahrung und Sozialisation heraus. Und die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist gerade mal der erste Schritt zur Diversität. Noch nicht betrachtet wird hier die Quote von Behinderten, Älteren, Menschen mit Migrationsgeschichte – schlicht: Die Vielfalt, die sich in unserer Gesellschaft abbildet, ist in der Mobilität nicht repräsentiert. Das wurde jahrzehntelang nicht hinterfragt und hat zu den Problemen geführt, denen wir uns heute gegenübergestellt sehen.

Das Problem: autogerechte statt menschenzentrierte Lebensräume

Schon das Wort schmerzt: „autogerecht“. Wie konnte es je gefeiert und so brutal umgesetzt werden, dass vor allem Städte, aber auch ländliche Räume autogerecht wurden und nicht menschengerecht blieben? Nach dem Zweiten Weltkrieg waren deutsche Städte zerstört – aber im Auto spiegelte sich der zukünftige Wohlstand und der Traum von der autonomen, selbstbestimmten, befreiten und auch von der Umgebung abgekapselten Mobilität wider. Schon früh wurde die Internationale Automobilausstellung (IAA) zum Pilger- und Sehnsuchtsort deutscher Familien. Wer sich ein Auto leisten konnte, hatte es „geschafft“.  Waren direkt nach den Kriegen noch Fahrräder und motorisierte Zweiräder auf den Straßen und auch auf den Fertigungsstrecken der späteren Autoindustrie in der Mehrheit, so änderte sich mit der wachsenden Dominanz des Autos auch die Hierarchie auf der Straße. Ab den sechziger Jahren fand sich das Umdenken in der Stadtplanung auch in den gestalterischen Maßnahmen wieder. Der Umbau zu autogerechten Räumen zerstörte noch einmal mehr die teilweise vom Krieg geschundenen Städte.

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Die 15-Minuten-Stadt wurde zerstört

Das, was heute wieder als Ziel von menschengerechter und ökologischer Stadtplanung gilt, war vor der Planung autogerechter Räume völlig selbstverständlich: eine gesunde Stadt, in der Arbeiten, Wohnen, Erholung, Kultur und Bildung nicht in verschiedenen Stadtvierteln verteilt für lange Wege sorgen, sondern sich alles im eigenen Viertel findet, was für den täglichen Bedarf notwendig ist.  Spätestens zwanzig Jahre nach dem 2. Weltkrieg war diese Funktionalität und Lebensqualität jedoch zerstört. Denn die deutschen Städte wurden weitestgehend vor der Motorisierung gebaut. Mit der politisch und gesellschaftlich gewünschten Ausbreitung der Automobilität musste für diese neue und hoch individuelle Verkehrsart mehr Platz geschaffen werden. Da die Geschwindigkeit des Pkw außerhalb des menschlichen Maßes liegt, benötigt sie weit mehr Raum als Fuß- und Radverkehr. Dieser Raum konnte nicht zusätzlich geschaffen werden, sondern wurde von den Unmotorisierten genommen. Gehwege mussten zudem zur Sicherheit klar von Autofahrwegen abgetrennt werden. Und auch das Abstellen von Autos im öffentlichen Raum sorgte für immensen Flächenfraß und Versiegelung. Das Parken in der heutigen Form ist so übrigens erst seit Ende der fünfziger Jahre erlaubt, in manchen Städten sogar später. Eingeklagt von einem Mann, der sein Auto nicht mehr nur auf eigenem Grund parken wollte. Heute ist das Abstellen von Autos überall erlaubt, es sei denn, es ist verboten.

Die gute Nachricht: Die Privilegien des Autos sind von Menschenhand gemacht; das, was auf Kosten vieler geht, kann also auch wieder zurückgenommen werden. Bei entsprechendem politischen Willen und einem klaren Zielbild: nämlich lebenswerten Räumen für alle.

Unsichtbare, weil unbezahlte Wege

Was aber braucht es, um bei einer klima- und sozial gerechten Gestaltung von öffentlichen Räumen auch wieder eine Mobilität ohne ein eigenes Auto zu ermöglichen? Rauszukommen aus der fast devot ertragenen Autoabhängigkeit, die vor allem Frauen betrifft, wenn das erste Kind in die Familie kommt? Frauen leisten nach wie vor den größten Anteil an Care-Arbeit, die Pandemie hat dies sogar wieder verstärkt. Es waren überwiegend Mütter und Großmütter, die für das Homeschooling und die Betreuung von Kindern ihre Lohnarbeitszeiten verkürzten, zuhause blieben, ältere Angehörige pflegten. Die so genannte weibliche Mobilität kann dabei natürlich auch von progressiven Männern genutzt werden, wenn diese unbezahlte Arbeit verrichten, diese sind jedoch eher Ausnahme denn Regel.Es bleibt zu hoffen, dass sich das bald ändert.

Was aber ist weibliche Mobilität und warum ist sie jahrzehntelang bei der Planung von Verkehrsangeboten nicht berücksichtigt worden?

Der Transport von Einkäufen, die Mitnahme von Kindern im Kinderwagen oder von älteren Personen mit Rollator führt zu sehr viel spezifischeren Anforderungen an die Zugänglichkeit der Verkehrsinfrastruktur als die männliche Erwerbsmobilität vom Wohn- zum Arbeitsort. Die Verkettung von Wegen ist für die weibliche Tagesmobilität typischer als für die männliche. Sie findet eher in der Nähe des Wohnortes statt, so dass für diese eine gute Fuß- und Radwege-Infrastruktur unerlässlich ist. Zudem: Die größte Fußmobilität haben Menschen als Kinder und dann wieder als Senior:innen – sie ist Basis aller Alltagsmobilität von Menschen ohne Einschränkungen. Egal ob auf dem Land oder in der Stadt.

Die Mobilität von Frauen ist weit weniger sichtbar, da der größte Anteil ihrer Sorgearbeit unbezahlt ist und bisher nicht durch Verkehrsdatenerfassung sichtbar gemacht wurde. Und wo kein Bedarf, da auch kein Angebot. So kam es, dass auch Systeme des Nahverkehrs eher strahlenförmig vom Zentrum einer Stadt oder eines Dorfes ausgehend geplant und für Sorgearbeit unerlässliche Querverbindungen nicht angeboten wurden. Männliche Erwerbsmobilität war hier das Maß aller Dinge, um „den Mann zur Arbeit zu bringen“, genügt das bisher angebotene System. Dabei ist der überwiegende Teil der Nutzenden von Nahverkehr weiblich. Ein Paradoxon, das dazu führt, dass die Gründung einer Familie oft der Zeitpunkt ist, wo das fehlende funktionierende multimodale Verkehrssystem zur Anschaffung eines Zweitwagens und damit zur zweitbesten Option für den Geldbeutel, das Klima und die Selbstbestimmung führt.

Gendersensible Verkehrs- und Stadtplanung ist die Zukunft – für alle.

Anne Hidalgo, Oberbürgermeisterin von Paris, Ada Colau in Barcelona und Maria Vassilakou, ehemalige Oberbürgermeister von Wien, sind neben vielen weiteren Bürgermeisterinnen die Pionierinnen bei der Fokussierung ihrer Arbeit als „Stadtoberhaupt“ auf die Wiedererschaffung lebenswerter Städte, klimaresilienter Räume und gendersensibler Verkehrsplanung. Der Dreiklang ist untrennbarer geworden, da es mittlerweile nicht nur gilt, den Verkehr zu dekarbonisieren und aus der Autoabhängigkeit herauszuführen, sondern auch die städtischen und ländlichen Räume auf die bereits stattfindenden Extremwetterereignisse wie Starkregen und große Hitze vorzubereiten. Menschen wie Hidalgo, Colau und Vassilakou haben das weit vor anderen verstanden und mit der Schaffung einer lebenswerten und integrativen Stadt begonnen, indem sie von Beginn an in ihre Planungen unterschiedliche Perspektiven einbezogen haben. Städte wie Helsinki haben sich das, was im Koalitionsvertrag unserer Regierung irgendwo ganz verschämt und ohne Auswirkung auf die reale Politik steht, zum Fokus ihrer Arbeit gemacht: Vision Zero, also das Ziel, keine Verkehrstoten mehr zu akzeptieren. In Deutschland sind die Zahlen während der Pandemie durch den partiellen Stillstand unserer Mobilität zwar gesunken, sie steigen jetzt jedoch wieder und zeigen vor allem, dass diejenigen mit steigender Anzahl getötet werden, die nicht durch die Verkehrsinfrastruktur oder das Sitzen in einem Auto geschützt werden: die Radfahrer:innen. Kein Fahrradhelm der Welt rettet so viel Leben, wie es sichere Infrastruktur kann. 30 Millionen Menschen sind in Deutschland mindestens einmal die Woche auf dem Rad unterwegs, über 70 Prozent würden öfter Rad fahren, wenn sie sichere Wege hätten. Ein enormes Potential zur Veränderung!

Fazit

Die Mobilität der Zukunft beginnt heute. Mit Mut müssen endlich die Bedürfnisse aller berücksichtigt werden. Denn es ist Unsinn, sich so zu verhalten, als sei die autozentrierte Gegenwart die erhaltenswerte Welt der Zukunft. Leider kommt der Druck zur Veränderung nicht aus uns heraus, sondern wird durch den Klimanotfall aufgebaut. Der Verkehrssektor ist nicht mehr nur Sorgenkind, er ist ein Erwachsener, der trotzig Augen, Ohren und den Mund verschließt, um nicht das Offensichtliche tun zu müssen: Es darf nicht mehr die Regel sein, dass zu einem selbstbestimmten Leben in zu vielen Regionen Deutschlands ein Führerschein und ein eigenes Auto notwendig sind. Die Mobilität von morgen sollte daher von einem heterogenen Team entworfen werden, das mehr weibliche Personen und auch Kinder, Senior:innen und Menschen mit Behinderungen einschließt. Die Privilegien des Autos, wie z. B. der Platzverbrauch, die steuerlichen Vorteile und die externalisierten Kosten müssen abgeschafft werden, um gesellschaftliche Teilhabe, soziale Gerechtigkeit und Existenzsicherung durch Daseinsvorsorge nachhaltig zu sichern.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de