Israel: Unterdrückung der Anti-Kriegs-Proteste mit »eiserner Hand«

Kommentar

Seit dem 7. Oktober hat die israelische Polizei Proteste gegen die Armeeangriffe auf Gaza systematisch verboten, eingeschränkt oder gewaltsam verhindert und damit sowohl unter jüdischen als auch palästinensischen Staatsbürger*innen Angst und Schrecken verbreitet.

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Am Abend des 16. Januar versammelten sich einige Dutzend Aktivist*innen vor der Kirya in Tel Aviv, wo sich nicht nur das israelische Verteidigungsministerium, sondern auch das Hauptquartier der Armee befindet. Es war eine der ersten jüdisch-israelischen Demonstrationen, die seit Anfang des Krieges explizit den Militärangriff auf den Gaza-Streifen verurteilten. Die Polizei handelte rasch, um die Demonstration zu unterdrücken: Dutzende Beamte wurden schon im Vorhinein abgestellt, um zu verhindern, dass die Proteste am geplanten Ort stattfinden konnten. Sie konfiszierten Schilder mit der Aufschrift »Stoppt das Massaker« mit der Begründung, diese würden die Stimmung der Öffentlichkeit verletzen. Ein Aktivist wurde verhaftet, etliche andere von der Polizei angegriffen.

Diese Abfolge von Ereignissen ist bei weitem keine Ausnahme. Seit dem 7. Oktober setzt die israelische Polizei eine konsequente Politik des Verhinderns oder Beschränkens jeglicher Proteste gegen den Krieg um – im Gegensatz zu Protesten, die aus Solidarität mit den Geiseln und deren Familien stattfinden und die in bestimmten Gebieten erlaubt wurden. Diese Politik ist immer noch in Kraft, trotz einer früher in diesem Monat erfolgten einstweiligen Verfügung des Obersten Gerichtshofes, die es dem Minister für Öffentliche Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, untersagte, in die Überwachung von Demonstrationen einzugreifen. Größtenteils taucht die Polizei trotzdem auf, um die vom Minister während des Krieges geforderte Einschränkung der freien Meinungsäußerung durchzusetzen.

Anti-Kriegs-Aktivist*innen im ganzen Land – Palästinenser*innen ebenso wie Jüdinnen und Juden – die für diesen Artikel interviewt wurden, erwähnten alle nur ein einziges Wort: »Angst«. Selbst altgediente politische Aktivist*innen gaben an, dass Protestieren niemals zuvor mit so viel Angst verbunden gewesen sei. Sie haben Angst, inhaftiert zu werden, da dies für palästinensische Staatsbürger*innen mit monatelangen Aufenthalten im Gefängnis verbunden sein kann. Es sei zudem gefährlicher denn je, Solidarität mit den Menschen in Gaza zu zeigen, und sie hätten auch das Gefühl, dass die Kriegsrhetorik der Politiker*innen direkte Auswirkungen auf das Verhalten der Polizei habe.

»Seit Beginn des Krieges stand fest, dass dies die Strategie sein würde«, erfuhren das +972 Magazine und Local Call von Maysana Mourani, Anwältin beim in Haifa ansässigen Menschenrechts- und Rechtszentrum Adalah. »Die Polizei hat neue Befugnisse erhalten, um Proteste augenblicklich zu unterbinden, selbst wenn keine Protestgenehmigung erforderlich wäre, und zwar aufgrund einer angeblichen ›Personalknappheit‹«.

Adalah hat seit dem 7. Oktober etliche Anträge beim Obersten Gerichtshof gestellt, um solche polizeilichen Verbote des Rechts auf Protest anzufechten. Trotz des Einschreitens des Gerichtshofes Anfang Januar, hat dieser es zum wiederholten Male versäumt, bei zahlreichen anderen Gelegenheiten zu intervenieren. Dadurch hat die Polizei einen weiten Ermessensspielraum, um zu entscheiden, welche Proteste sie zulässt und welche nicht. »Es hängt immer von der Identität der Demonstrant*innen und den Parolen ab«, so Mourani.

»Die Gerichte sehen in jeder Form des Protestes eine Gefahr«, fährt sie fort. »Die Menschen werden automatisch einige Tage in Gewahrsam genommen, was recht schnell eine Anklage nach sich ziehen kann sowie eine Verfügung, sie bis zum Abschluss des Verfahrens festzuhalten. Es ist völlig irre - aber es ist die neue Norm.«

»Der Grundsatz lautet, dass die Polizei jeglichen Protest unterdrückt«, so Amjad Shbita, der Nationalsekretär der linksgerichteten Hadash Partei, gegenüber dem +972 Magazine. Am 9. Januar versuchte Hadash einen Protest in der im Norden Israels gelegenen Stadt Kabul zu organisieren, und da die Zahl der Teilnehmenden fünfzig nicht überschreiten würde, bestand auch kein Anlass, eine Genehmigung einzuholen. Dennoch waren die Proteste zu Ende, noch ehe sie überhaupt begonnen hatten: »Die Polizei hat den Sekretär der lokalen Ortsgruppe von Hadash festgenommen und ihn bedroht, also gaben wir auf. Die Ortsgruppe hat den Protest abgesagt.«

Einige der Einschränkungen scheinen sich in den vergangenen Wochen ein wenig entspannt zu haben. In Arraba, einer anderen arabischen Stadt im Norden, fand am 12. Januar eine Anti-Kriegs-Kundgebung von etwa 150 Personen statt, die größte palästinensische Kundgebung in Israel seit dem Beginn des Krieges.

Am vergangenen Wochenende durften, nach Anträgen beim Obersten Gerichtshof, größere Demonstrationen in Haifa und Tel Aviv stattfinden, die die Polizei mit dem Verweis auf den aktuellen Personalmangel ursprünglich untersagt hatte. Mehr als 1.000 Menschen nahmen an der Kundgebung in Tel Aviv teil, die von der jüdisch-arabischen Bewegung Standing Together organisiert wurde, während die Polizei die Zahl der Teilnehmer*innen an der von Hadash angeführten Kundgebung in Haifa mit 700 begrenzte.

Dennoch herrscht unter den Interviewten das Gefühl, dass es sich dabei nur um minimale Änderungen handle. »Die Polizei hat ein wenig lockerer gelassen«, sagt Shbita, »aber ihre eiserne Hand ist immer noch spürbar«.

»Sie versuchen uns einzuschüchtern«

Proteste zu unterdrücken, sowohl im Krieg als auch anderweitig, ist keinesfalls neu für die israelische Polizei. Doch der aktuelle Angriff auf die Meinungsfreiheit wird mit beispielloser Geschwindigkeit und Gewalt ausgeführt.

Eine Woche nach Kriegsbeginn verkündete der Polizeichef Kobi Shabtai ein Verbot aller Demonstrationen, die aus Solidarität mit den Palästinenser*innen in Gaza stattfinden. »Jeder, der sich mit Gaza identifizieren möchte, ist herzlich dazu eingeladen«, sagte er in einem Video auf den arabischen Social Media-Seiten der israelischen Polizei. »Ich setze ihn persönlich in einen Bus, der dorthin fährt.«

Der Polizeisprecher Eli Levy schlug kurz danach in die gleiche Kerbe, als er IDF Radio sagte: »An alle, die es wagen, uns um die Genehmigung einer Solidaritäts-Demonstration mit Gaza oder mit der Nazi-Terrororganisation, die hier einen Holocaust veranstaltet hat, zu ersuchen: Das werden wir selbstverständlich nicht gestatten. Wer auch immer Demonstrationen ohne Genehmigung abhält – wir werden zur Stelle sein und die Demonstrationen mit allen Mitteln bekämpfen.« Er fügte hinzu: »Jeder der es wagt hinauszugehen und ein Wort des Lobes über Gaza zu sagen, wird sich hinter Gittern wiederfinden.«

Am 7. November lehnte der Oberste Gerichtshof den Antrag von Adalah gegen die Polizeientscheidung ab, Palästinenser*innen in den Städten Umm al-Fahm und Sakhnin aufgrund von »Personalknappheit« keine Protestgenehmigung zu erteilen. Das Gericht stellte jedoch fest, dass ein »umfassendes und allgemeines Verbot von Demonstrationen im Vorhinein aufgrund ihres Inhalts nicht in den Zuständigkeitsbereich des Polizeichefs falle«, und beharrte darauf, dass jede Anfrage um Genehmigung gebührende Berücksichtigung verlange. Doch trotz dieser Vorgaben wurden seit dem 7. Oktober, bis auf eine Ausnahme, alle Proteste, die ausschließlich von palästinensischen Staatsbürger*innen Israels organisiert worden waren, untersagt.

Rula Daood, eine palästinensische Staatsbürgerin Israels und nationale Mitgeschäftsführerin der Bewegung Standing Together, die vergangene Woche in Tel Aviv die bislang größte Demonstration gegen den Krieg organisiert hatte, erläutert die außerordentlichen Schwierigkeiten, die mit dem Versuch verbunden sind, im aktuellen politischen Klima Proteste zu organisieren: »Die Polizei erteilte uns zunächst eine Genehmigung, die sie dann wieder zurückzog. Zuerst gaben sie an, der Marsch sei zwar bestätigt, der Ort jedoch nicht passend, und Reden wurden untersagt. Es hat sich ständig etwas geändert.«

»Davor sagten sie, es könne keinen Marsch geben, nur eine Versammlung, und keine Reden«, fährt Daood fort. »Wir wollten, dass tausende Menschen in Tel Aviv aufmarschieren und ein Ende des Krieges, ein Waffenstillstandsabkommen und die Rückkehr der Geiseln fordern. Wir wollten diese Stimme verstärken und über den Tag danach sprechen.«

Die Begründung der Polizei für die Verbote – dass es an Personal fehle um die Protestierenden vor Gegen-Protestierenden zu schützen – scheint jeder Grundlage zu entbehren. Keine diese Kundgebungen hatte wesentliche Gegenproteste ausgelöst, mit Ausnahme einiger Passant*innen, die die Demonstrant*innen beschimpften.

»Sie versuchen uns einzuschüchtern. Ein Gefühl zu erzeugen, dass die Polizei überlegen ist, dass sie tut, was sie will, und dass niemand ihr etwas anhaben kann«, so Daood. »Es ist politische Überwachung, und es ist sehr beängstigend. Als palästinensische Staatsbürgerin ist die Angst mehr als doppelt so groß. Die Menschen haben sogar Angst, an kleinen Kundgebungen teilzunehmen, auf Fotos aufzutauchen oder irgendetwas zu schreiben.«

Am 9. November plante das High-Follow-Up Committee – eine Dachorganisation, die palästinensische Staatsbürger*innen Israels vertritt – einen friedlichen Protest in Nazareth, an dem eine beschränkte Anzahl an Eingeladenen teilnehmen sollte. Die Polizei führte jedoch vorbeugende Inhaftierungen durch – unter anderem wurde das ehemalige Knesset-Mitglied Mohammed Barakeh, Vorsitzender des Committee, verhaftet – und verhinderte so, dass der Protest überhaupt stattfinden konnte.

Nach seiner Inhaftierung reichte Barakeh eine Petition beim Obersten Gerichtshof ein, doch die Richter lehnten diese ab. Am folgenden Tag übersandte der Kommandant der Polizeidienststelle Nazareth, Eyal Kihati, Barakeh eine Nachricht und warnte ihn davor, den Protest abzuhalten: »Die Botschaft ist klar und unmissverständlich. Wir werden keine Verstöße gegen Gerichtsentscheidungen oder von mir als Dienststellenkommandant getroffene lokale Entscheidungen tolerieren, und jeder Veranstaltung von Ihnen oder Vertreter*innen des High Follow-Up Committee wird mit Null-Toleranz und in Übereinstimmung mit den von Gesetzes wegen vorgesehenen Mitteln begegnet werden.“

Im Dezember wurde Barakeh von Polizeifahrzeugen verfolgt. Die Proteste durften schließlich später im Monat ohne weitere Inhaftierungen stattfinden.

»Es herrscht ein Gefühl von Hilflosigkeit«

Am 19. Oktober fand in Umm al-Fahm eine Antikriegsdemonstration statt. Die heftige Reaktion der Polizei hierauf – die Demonstration wurde unter Einsatz von Blendgranaten, Schlagstöcken und Hartschaumstoffgeschossen aufgelöst und die Polizei verhaftete zwölf Protestierende – machte den Protest zum Symbol für Repressionen durch die Polizei seit dem Beginn des Krieges.

Die Polizei verlangte, dass elf der Inhaftierten, darunter auch vier Minderjährige, in Gewahrsam blieben, und das Gericht genehmigte den Antrag ohne eine Anhörung der Inhaftierten, da der Schabbat bereits begonnen hatte. Nach einer Anhörung am Samstagabend wurden neun der Inhaftierten mit Auflagen entlassen, zwei weitere – Ahmad Khalifa und Muhammad Jabarin, die die Polizei als Organisatoren der Proteste verdächtigte – blieben in Haft.

Die beiden wurden wegen des Skandierens politischer Parolen angeklagt, die das Gericht als Verhetzung einstufte, und ihre Haft wurde bis zum Ende des Verfahrens aufrechterhalten – vielleicht das erste Mal, dass dies nur aufgrund des Rufens von Parolen geschah. Mourani, Anwältin bei Adalah, vertrat Jabarin. »Sie geben an, es ginge um Verhetzung und Parolen und nicht um die Demonstration, aber das eine lässt sich vom anderen nicht trennen«, sagt sie.

»Dies ist eine Änderung der Strategie«, fährt Mourani fort. »Als wir eine Alternative zur Haft diskutierten, argumentierten sie, dass Hausarrest und Fernüberwachung nicht möglich seien, da [die Inhaftierten] theoretisch in der Lage wären, diesen Maßnahmen zuwiderzuhandeln und das Haus verlassen könnten, um an Demonstrationen teilzunehmen. Das sind keine neuen Erklärungen und nichts was nur auf den 7. Oktober zurückzuführen wäre.«

Dies ist kein Einzelfall. Seit dem 7. Oktober hat die Staatsanwaltschaft Ermittler*innen in Dutzenden Fällen aufgefordert, das Gericht zu ersuchen, die Haft bis zum Ende der jeweiligen Verfahren auszuweiten, darunter auch jene, die mit »Aufwiegelung« in sozialen Medien zu tun hatten.

Bei einer der Anhörungen beschrieb Khalifa – einer der beiden Angeklagten – einem Richter die Bedingungen im Gefängnis Megiddo, wo er als Sicherheitshäftling festgehalten wird: »Die Menschen werden in Handschellen gehalten. … Sie werden herumgeschleift, als wären sie Tiere. Hebt man den Kopf, wird man auf diesen geschlagen. Ich habe das tagtäglich erlebt. Wenn einer der Wärter jemanden beim Lächeln erwischt, wird diese Person weggebracht; es gibt einen Bereich mit einem ›blinden Fleck‹ [außerhalb der Reichweite der Sicherheitskameras], über den das ganze Gefängnis Bescheid weiß.«

Khalifa bezeugte zudem, dass ein Häftling in der Zelle neben seiner geschlagen wurde und später an den Wunden verstarb, was Zeugenaussagen entspricht, über die das +972 Magazine vergangenen Monat berichtete.

Shbita zufolge haben die Menschen aufgrund solcher Geschichten, die sie von jenen hören, die verhaftet wurden, Angst zu protestieren. »Politische Aktivist*innen haben sich früher gesagt ›Wir werden ein oder zwei Tage inhaftiert, das ist nicht das Ende der Welt‹, sagt er. »Aber jetzt herrscht selbst unter Menschen, die häufig protestieren, das Gefühl vor, dass es, aufgrund der physischen Gewalt während der Inhaftierung, tatsächlich das Ende der Welt ist.«

Obwohl in arabischen Orten im Norden in den vergangenen Wochen kleinere Proteste stattgefunden haben, gab es in der Naqab/Negev im Süden keine solchen Demonstrationen. »Es schmerzt mich, dass Menschen auf der ganzen Welt für uns demonstrieren – in Europa sind die Menschen zu Hunderttausenden auf den Straßen – aber dass wir nicht für uns selbst demonstrieren können«, sagt Huda Abu Obeid, eine politische Aktivistin aus der Naqab. »Es herrscht ein Gefühl der Hilflosigkeit. Das einzige, was wir vor dem Krieg tun konnten, war zu protestieren, und jetzt können wir nicht einmal mehr das.«

Abu Obeid zufolge gab es ursprünglich keine Proteste, da die Menschen so bestürzt über die Ereignisse des 7. Oktober waren. »Es war ein echter Schock«, sagt sie. »Wir sind israelische Angriffe gewohnt, aber das war das erste Mal, dass es die Palästinenser waren, die auf so massive Art und Weise angegriffen haben. Wir wussten nicht, wie wir reagieren sollten.«

Abu Obeid erklärt das Ausbleiben von Protesten auch mit dem abschreckenden Effekt der Massenverhaftungskampagne gegen palästinensische Staatsbürger*innen Israels nach der sogenannten »Unity Intifada« vom Mai 2021. »Dem Schin Bet ist es gelungen, alle in Angst und Schrecken zu versetzen«, sagt sie. »Sie luden Aktivist*innen [für Verhöre] vor, schüchterten sie ein, kamen an Orte politischer Aktivität. Man hat das Gefühl, dass man stets verfolgt wird, egal, was man tut, selbst wenn es gar nichts mit Demonstrationen zu tun hat.«

»Wir werden von allen Seiten zum Schweigen gebracht«

In Ermangelung größerer Proteste, bestehen die meisten Antikriegs-Aktivitäten aus kleinen lokalen Mahnwachen, für die keine Genehmigungen nötig sind – doch selbst diese wurden von der Polizei und Passant*innen attackiert. Die Mahnwachen werden für gewöhnlich nicht öffentlich in sozialen Medien angekündigt, sondern eher in geschlossenen Gruppen. Um die Bildung eines rechtsgerichteten Gegenprotestes zu vermeiden, dauern sie gewöhnlich nicht länger als eine Stunde, und die Aktivist*innen kommen und gehen gemeinsam, aus Angst, auf dem Weg angegriffen zu werden.

Die jüngste dieser Aktionen, die gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurde, war eine kleine Versammlung, die vergangene Woche in der arabischen Stadt Al-Batuf in der Nähe von Nazareth stattfand. Wenige Wochen zuvor hatten Aktivist*innen in Tel Aviv eine Straßenausstellung aktueller Fotografien aus Gaza abgehalten; Passant*innen, einige davon bewaffnet, attackierten die Aktivist*innen und rissen die Bilder herunter, während die Polizei zusah.

Während die internationalen und die lokalen arabischen Medien großes Interesse an diesen Protesten und Mahnwachen zeigen, werden die Veranstaltungen von israelischen Mainstream-Medien fast völlig ignoriert. »Unsere Stimme wird in Israel kaum gehört«, sagt Michal Sapir, ein Aktivist des »radikalen Blocks«, der die Straßenausstellung organisiert hatte. »Wir werden von allen Seiten zum Schweigen gebracht. Der Staat zeigt nicht, was in Gaza vor sich geht. Deshalb finden wir es wichtig, aufzustehen und zu sagen, dass das Töten von Zivilist*innen in Gaza, das in unserem Namen begangen wird, ein Ende haben muss, und dass es keine militärische Lösung geben kann.«

Als der Krieg begann, versuchten die Aktivist*innen herausfinden, wie sich das Demonstrationsverbot umgehen ließ. »Wir sind es schrittweise angegangen«, berichtet Sapir. »Wir wussten nicht, wie die Reaktionen sein würden. Zunächst begleiteten wir nur die Familien der Geiseln. Wir schauten, ob es möglich war, mit Schildern dort zu stehen, die einen Waffenstillstand forderten, und wir sahen, dass es möglich war. Langsam wechselten wir zu radikaleren Parolen und versammelten uns auch am HaBima [ein großer öffentlicher Platz im Zentrum von Tel Aviv]. Wir beobachteten, was sich sagen ließ und was [Polizei-] Gewalt zur Folge hatte.«

»Bis zum drastischen Einschreiten gegen die Protest-Schilder [bei den Protesten vor der Kirya am 16. Januar] hat uns die Polizei eigentlich in Ruhe gelassen, doch jetzt verfolgen sie eine neue Politik«, fährt Sapir fort. »Sie haben es satt, dass wir uns in der Nähe des militärischen Hauptquartiers aufhalten«.

Von Zeit zu Zeit, fügt Sapir hinzu, würden die Aktivist*innen von Passant*innen angegriffen. »Ein Lieferbote hat Eier auf uns geworfen. Doch für gewöhnlich herrscht Toleranz, manchmal gibt es auch Unterstützung.«

Aktivist*innen in Jerusalem haben in den vergangenen Wochen etliche kleine Demonstrationen gegen den Krieg abgehalten, darunter auch einige vor dem US-Konsulat. Eine Mahnwache für die in Gaza getöteten Menschen, die Anfang Januar stattfand, wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst, wobei zwei Demonstrierende verhaftet und Fotografien der in Gaza Getöteten konfisziert wurden. Vergangene Woche wurde eine andere Protest-Mahnwache in Jerusalem von der Polizei angegriffen; die Polizei konfiszierte Schilder und drängte die Demonstrant*innen gewaltsam zurück.

»Alles ist beängstigend«, erzählt ein Aktivist der linksgerichteten Gruppe Free Jerusalem, der nicht namentlich genannt werden möchte, dem +972 Magazine und Local Call. »Es steht mehr auf dem Spiel. Im Gegensatz zu früher, als wir Veranstaltungen offen bewerben konnten, sind wir jetzt vorsichtiger. Die öffentliche Meinung und die Aussagen der gesamten politischen Führung Israels haben sich nach rechts verschoben, und das hat einen Anstieg von Angst und Sorge zur Folge.«

Ihm zufolge forderten Aktivist*innen von Free Jerusalem bei einer der ersten Protestaktionen, bei der für die Freilassung der Geiseln demonstriert wurde, ein Ende des Kriegs, um die Freilassung zu gewährleisten. Dafür wurden sie von Passant*innen attackiert. »Es war nicht einmal direkt gegen den Krieg gerichtet, aber es gab Gewalt«, sagt er.

»Bei den beiden Demonstrationen, die wir an aufeinanderfolgenden Samstagabenden abhielten [6. und 13. Januar], vertrieb uns die Polizei nach nur wenigen Minuten gewaltsam und gestattete es uns nicht, zu protestieren«, fährt er fort. »Sie nahmen unsere großen Schilder, auf denen ›Nein zum Krieg in Gaza‹ und ›Waffenstillstand jetzt‹ geschrieben stand.«

»Die Polizei beschimpfte uns, nannte uns Schlampen und riet uns, zurück nach Gaza zu gehen«

In Haifa haben Aktivist*innen kreative Möglichkeiten ersonnen, um der aggressiven Unterdrückung von Antikriegs-Aktivitäten in der Stadt zu entgehen. Am 28. Dezember organisierte eine kleine Gruppe von Aktivist*innen eine, wie sie es selbst bezeichnen, »springende« Demonstration, bei der sie sich von Ort zu Ort bewegten, ehe die Polizei sie aufhalten konnte.

»Wir haben es nicht in großen Gruppen [in den sozialen Medien] angekündigt, da wir wissen, dass die Polizei diese überwacht«, berichtet Gaia Dan, eine in Haifa lebende Aktivistin. »Tatsächlich hat es recht gut funktioniert. Wir standen zwanzig Minuten in der deutschen Kolonie [im Zentrum Haifas] und als die Polizei eintraf, waren wir bereits woanders. Dorthin kam die Polizei innerhalb von fünf Minuten, also flohen wir an einen dritten Punkt. Wir versuchen präsent zu sein, ohne dass es zu Gewalt kommt.«

Dan war bei einem anderen Protest in der Stadt, einen Monat zuvor, verhaftet worden, als Aktivist*innen stumm dastanden, mit Klebeband über dem Mund, um gegen die politische Verfolgung jener zu protestieren, die ihren Unmut über den Krieg ausdrückten. »Als wir ankamen, waren schon drei Polizeiautos dort und innerhalb weniger Augenblicke rief der Bezirkskommandant durch ein Megaphon, dass er uns, sollten wir nicht innerhalb von zwei Minuten verschwunden sein, gewaltsam vertreiben würde.«

Dan zufolge schlugen die Polizisten dann auf die Protestierenden ein. »Sie verhafteten eine Person und begannen, Schilder zu zerreißen und Menschen hin und her zu stoßen. Sie rissen mein Schild herunter, das ziemlich harmlos war: ›Stoppt das zum Schweigen bringen‹. Ich wurde gezerrt und getreten. So wurde ich verhaftet.«

Im Polizeiauto, zusammen mit zwei weiteren Inhaftierten, hätten die Polizeibeamten sie beschimpft. »Sie nannten uns Schlampen, rieten uns, zurück nach Gaza zu gehen und fragten uns, ob wir uns nicht schämen würden, in Kriegszeiten so zu demonstrieren. Während wir auf der Wache warteten, schimpften die Polizisten weiter und sangen Lieder über die Rückkehr nach Gush Katif [dem ehemaligen jüdischen Siedlungsblock in Gaza, der 2005 geräumt wurde] und die Zerstörung von Gaza. Nach drei Stunden wurden wir ohne Auflagen entlassen.«

Das harte Durchgreifen der Polizei gegen abweichende Meinungen in Haifa begann unmittelbar nach Kriegsausbruch. Am 18. Oktober plante die Bewegung Hirak eine Demonstration in der Stadt; Stunden vor Beginn gab die Polizei eine Erklärung ab, mit der Angabe, dass keine Genehmigung erteilt worden sei und dass man »kein Zeichen der Unterstützung oder Solidarität mit der Terrororganisation Hamas gestatten würde« und »mit fester Hand in Übereinstimmung mit dem Gesetz durchgreifen wird, um die Demonstration aufzulösen, wenn nötig auch unter Einsatz von Maßnahmen zur Auflösung von Massen«.

Die Aktivist*innen fuhren dennoch mit der Demonstration fort, woraufhin Dutzende Polizisten auftauchten und diese für illegal erklärten, die Protestierenden gewaltsam vertrieben und fünf Aktivist*innen, die sich weigerten zu gehen, verhafteten. Adalah, deren Anwält*innen drei der Verhafteten vertraten, wurde mitgeteilt, dass die Inhaftierten auf Anordnung des Polizeichefs die ganze Nacht über in Gewahrsam bleiben würden. Am folgenden Tag ordnete das Gericht in Haifa ihre Freilassung an.

Am 29. Oktober wurde der Aktivist Yoav Bar in seinem Zuhause festgenommen, mit, wie es die Polizei ausdrückte, »aufhetzenden Materialen«, die sich als politische Plakate herausstellten. Kurz darauf wurde er ohne Auflagen wieder freigelassen.

Seit den Verhaftungen bei den Protesten vom 28. Dezember haben die Menschen in Haifa, Dan zufolge, Angst, auf die Straße zu gehen. »Bei der ersten Demonstration waren wir zwanzig, jetzt ist es schon schwierig, nur fünf Leute zu finden«, sagt sie. »Die Menschen sehen auch, was in Tel Aviv und Jerusalem passiert – sie wollen nicht zu einer Demonstration gehen und verprügelt werden, und ich verstehe sie. Es ist schwierig und kräfteraubend, wenn man jedes Mal Angst haben muss, verhaftet oder auf den Bürgersteig gedrückt zu werden. Auch ich habe Angst. Doch schlussendlich sind wir als Jüdinnen und Juden privilegiert, da wir für gewöhnlich keiner langen Haft ausgesetzt sind. Es ist wichtig zu demonstrieren, so gut wir es eben können.«

Shbita, der Hadash-Sekretär, hofft, dass jetzt, nach drei Monaten Krieg, die breite jüdische Masse ebenfalls versteht, warum sie protestieren. »Der Schock am 7. Oktober war echt, aber im Laufe der Zeit fangen die Menschen an Fragen zu stellen«, sagt er. »Leider fangen die Menschen in Israel erst an, die schwierigen Fragen zu stellen, wenn ihre eigene Seite zu Schaden kommt. Die 20.000 bis 30.000 palästinensischen Opfer sind ihnen egal, aber die Bedrohung des Lebens der Geiseln, die getöteten Soldat*innen, die diplomatischen Probleme, die Wirtschaftskrise – all diese Themen werden die Öffentlichkeit dazu bringen, Fragen zu stellen.«

Das +972 Magazine und Local Call haben die Polizei um einen Kommentar zu ihrer Strategie der Verhinderung von Protesten gegen den Krieg gebeten und Auskunft darüber verlangt, mit welchem Recht sie Protest-Schilder konfiszieren und was sie zur Behandlung von Inhaftierten durch Polizeibeamte in Haifa sagen.

Ein Sprecher der Polizei gab daraufhin an: »Ohne uns auf einen bestimmten Fall zu beziehen, stellen wir fest, dass die Polizei in Übereinstimmung mit gesetzlichen Vorgaben und den in der Richtlinie der Generalstaatsanwaltschaft festgelegten Direktiven handelt. Die israelische Polizei gestattet das legitime Recht auf Demonstrationsfreiheit, sie gestattet jedoch weder Erscheinungsformen von Gewalt gegen Polizeibeamt*innen, noch irgendeine Art der Störung der öffentlichen Ordnung.«


Übersetzt aus dem Englischen von Alexandra Titze-Grabec.

Die englische Originalversion des Artikels wurde am 24. Januar 2024 zuerst beim +972 Magazine veröffentlicht.