60 Jahre nach dem Militärputsch in Brasilien

Analyse

Am 31. März 2024 jährt sich der Militärputsch zum 60. Mal. Die wiederauflebende Verherrlichung der Diktatur ab 2013 mit dem Aufstieg konservativer und rechter Kräfte sowie Bolsonaros Amtszeit und die Angriffe auf die Regierungsgebäude in Brasília am 8. Januar 2023 zeigen, dass die Vergangenheit der Militärdiktatur noch lange nicht überwunden ist. Es ist wichtiger denn je, sich für die Demokratie, Erinnerung und Gerechtigkeit einzusetzen.

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Bruch mit dem Konsens zur Erinnerungskultur

Im September 2019 berichteten die Nachrichten, dass das brasilianische Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte unter der Regierung von Jair Bolsonaro auf Nachfrage seitens der Staatsanwaltschaft offiziell erklärt hatte, dass es „keinerlei Verpflichtung“ habe, öffentliche Gelder in die Errichtung eines Denkmals für die Amnestie zu investieren. Es geht hierbei um die Fertigstellung eines 2017 begonnenen Monuments in Belo Horizonte, das u.a. von der Bundesuniversität von Minas Gerais (UFMG) verantwortet wurde. Die der Staatsanwaltschaft vorgelegte Argumentation führte an, dass die Errichtung eines Denkmals für die Amnestie „in sich widersprüchlich“ sei, denn das Wort Amnestie „bedeute Vergessen‘“ und „ein Denkmal für die Amnestie entspräche damit einem Denkmal für das Vergessen“.

Dieser Fall war nur einer von vielen Aktionen mit denen das Ministerium versuchte, die Fortführung von Projekten für die Erinnerung und Wiedergutmachung der Gräueltaten, die während der Militärdiktatur durch den brasilianischen Staat begangen wurden, zu behindern. Dazu gehörte auch die schrittweise Aushöhlung der Sonderkommission für die aus politischen Gründen Ermordeten und Verschwundenen (CEMDP) bis hin zu ihrer Abschaffung im letzten Jahr der Bolsonaro-Regierung. Diese Kommission war durch das Gesetz Nr. 9.140 im Jahr 1995 errichtet worden, um die Verbrechen der Diktatur aufzuklären.

Das Vergessen war in den 21 Jahren Diktatur und unter der darauffolgenden Übergangsregierung hin zur Demokratie vorherrschend. Abgesehen von der akademischen und kulturellen Aufarbeitung, die nie zum Erliegen kamen, wurde die Erinnerungsarbeit zur von der Militärregierung zwischen 1964 und 1985 begangenen Gewalt erst im Jahr 1995 von staatlichen Akteur*innen aufgenommen, als die oben genannte Sonderkommission von Fernando Henrique Cardoso (Partei der brasilianischen Sozialdemokratie, PSDB) während seiner ersten Amtszeit errichtet wurde.

Das Projekt „Brasil: Nunca Mais“ (BNM – Brasilien: Nie wieder) leistete einen sehr wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung, Erinnerungskultur sowie zur Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit. Es wurde in den 1980er Jahren von Anwält*innen und Journalist*innen mit der Unterstützung des katholischen Kardinals Dom Paulo Evaristo Arns und dem presbyterianischen Pastor James Wright ins Leben gerufen und vom Weltkirchenrat finanziert. Der Wert dieser Projektarbeit ist für die aktive Erinnerungsarbeit unumstritten.

Von August 2001 an wurde der Prozess der Aufarbeitung durch die Amnestiekommission gestärkt, die vom Justizministerium während der zweiten Amtszeit von Fernando Henrique Cardoso eingesetzt wurde. Sie begann, die Entschädigungsanträge der Menschen zu analysieren, die während der Militärdiktatur aus rein politischen Gründen daran gehindert wurden, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen stießen noch weitere Initiativen an, um das Wissen über „Restorative Justice“ und die Konzepte von Erinnerung und Wahrheit im Land bekannt zu machen. Während der zweiten Amtszeit von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (Arbeiterpartei, PT) wurde im Rahmen des dritten Nationalen Plans für Menschenrechte eine Reihe von Maßnahmen zu diesem Thema ergriffen, die in der Nachfolgeregierung unter der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff (ebenfalls PT) schließlich zur Erlassung vom Gesetz Nr. 12.528/2011 führten, durch das die Nationale Wahrheitskommission (CNV) eingeführt wurde.

Von 2012 bis 2014 erarbeitete die Nationale Wahrheitskommission den ersten umfangreichen offiziellen Bericht der brasilianischen Regierung über die gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die während der Militärdiktatur begangen wurden. Dabei wurden die Dokumente der bis dahin offiziell zu dem Thema arbeitenden Kommissionen, akademische Forschungsarbeiten, das herausragende Projekt Brasil: Nunca Mais (BNM) und viele Anhörungen von Opfern, Täter*innen und anderen Personen herangezogen. Der fast zweitausend Seiten umfassende Bericht benannte 377 für Verbrechen verantwortliche Personen und registrierte 434 Opfer von Mord oder gewaltsamem Verschwindenlassens durch das Regime. Die Nationale Wahrheitskommission formulierte in diesem Bericht auch Empfehlungen für institutionelle Maßnahmen, Verfassungs- und Rechtsreformen. Sie sprach sich dafür aus, die Aktivitäten der Wahrheitskommission in Bezug auf Wiedergutmachung und Prävention weiterzuführen und die Anregungen der Kommission umzusetzen, damit sich das Erlebte niemals wiederholen möge. Abgesehen von der Nationalen Wahrheitskommission wurden auch auf Ebene der Bundesstaaten und Gemeinden sowie auf institutioneller Ebene Wahrheitskommissionen eingerichtet, um zu einer noch umfassenderen Aufklärung beizutragen.

Vom Ende der Diktatur im Jahr 1985 bis hin zur Veröffentlichung des Berichts der Nationalen Wahrheitskommission im Jahr 2014 sind 29 Jahre vergangen, in denen kaum etwas passierte. Eine ganze Generation ist ohne den gebotenen Zugang zu dieser Geschichte aufgewachsen. Die Verhandlungen zur „Befriedung des Landes“, die zum Ende der Diktatur führten, brachten die Demokratie mit dem 1979 vom damaligen Präsidenten João Baptista Figueiredo erlassenen Amnestiegesetz (umfassende, allgemeine und uneingeschränkte Amnestie für Verfolgte und Täter*innen des Regimes) sowie den indirekten Wahlen zum Nationalkongress und des ersten zivilen Präsidenten 1985 zurück. Gleichzeitig bedeutete dies auch die Straflosigkeit für all diejenigen, die für die schwerwiegenden Rechtsverletzungen verantwortlich waren.

So wurde mit dem Amnestiegesetz von 1979 offiziell das Vergessen gefördert. Mit diesem gesellschaftlichen Abkommen wurden erlebte Konflikte zugunsten einer Konvergenz und einer sozialen Harmonie unsichtbar gemacht. Das Vergessen wurde für die Post-Diktatur-Generationen in Brasilien jedoch zu einem Hindernis für die Zukunft. Die auferlegte Stille sollte Erzählungen zum Schweigen bringen und Polemik entmachten, im Namen des „sozialen Friedens“. Mit dem Vergessen ist es unmöglich eine Zukunft aufzubauen, die nicht das Unheil der Vergangenheit reproduziert.

Wiederaufleben der Verherrlichung der Diktatur ab 2013

Die angeordnete „Volksamnestie“ erlebte ihren Höhepunkt im Jahr 2013 mit den regierungsfeindlichen Zusammenschlüssen gegen Dilma Rousseff (PT), welche die extreme Rechte in Brasilien stärkten. Von 2013 an zirkulierten in den digitalen Medien zunehmend Videos, Share Pics, Audio-Dateien und Fotos von Personen und Gruppen, die eine „militärische Intervention in die Regierung Brasiliens“ forderten. Diese Flut an Inhalten brachte immer extremere Formen hervor, die auch die historische Leugnung der Militärdiktatur verbreiteten. Die 21 Jahre Militärdiktatur in Brasilien wurden sowohl von Militärs, Intellektuellen, Medienplattformen (wie z. B. Brasil Paralelo und Gazeta do Povo) als auch von rechtsorientierten Politiker*innen neubewertet, überdacht und gerechtfertigt.

Das Land erlebte Forderungen nach einer Militärintervention auf Straßendemonstrationen und die Stimmabgabe von Jair Bolsonaro (PP-RJ), damals noch Bundesabgeordneter, beim Amtsenthebungsverfahren gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff. Bolsonaro baute eine grausame Symbolik auf. Es war ein einschneidender Moment für alle Verteidiger*innen der Demokratie und der Menschenrechte, die mit Entsetzen sahen, mit welcher Nachgiebigkeit die Verherrlichung der Diktatur im Hause der gesetzgebenden Gewalt Brasiliens aufgenommen wurde. Am 17. April 2016 gab der Abgeordnete Jair Bolsonaro während der Abstimmung im Amtsenthebungsverfahren gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff – begleitet von Buhrufen und Applaus - die folgende Erklärung für seine Stimme ab: „In Gedenken an Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra, den Schrecken Dilma Rousseffs, für die Armee von [Duque de] Caxias, für die Streitkräfte, für Brasilien über allem und Gott über allem ist meine Stimme Ja.“ Laut dem Bericht der Nationalen Wahrheitskommission handelt es sich bei dem von Bolsonaro bewunderten Brilhante Ustra um einen der blutrünstigsten Folterer der brasilianischen Militärdiktatur. Diese Stimmabgabe Bolsonaros wurde landesweit live übertragen, das Impeachment-Verfahren Jahre später für ungültig erklärt. Von 1970 bis 1974 war Carlos Alberto Brilhante Ustra Leiter des DOI-CODI, des Organs für politische Repression der Militärregierung in São Paulo. Unter seiner Befehlsgewalt wurden dem Abschlussbericht der Nationalen Wahrheitskommission nach etwa 50 Personen ermordet oder sind gewaltsam verschwunden und weitere 500 Menschen wurden gefoltert. Ustra verstarb im Jahr 2015 im Alter von 83 Jahren. Seine Witwe Maria Joseíta wurde von Jair Bolsonaro während seiner Präsidentschaft mindestens zweimal offiziell empfangen. Bei einer dieser Gelegenheiten erklärte er öffentlich, dass der ehemalige Oberst des DOI-CODI ein „Nationalheld“ sei.

Forschungen zeigen, dass dieser regierungsfeindliche Zusammenschluss durch ein Gefühl der Anti-Politik bei der älteren Generation hervorgerufen wurde, die die Diktatur miterlebt hat und von Wut, Frustration und Unwissen in Bezug auf die Vergangenheit und die neuen Zeiten getrieben wurden. Auch ein Teil der jungen Menschen, denen die Diktatur nicht adäquat nähergebracht wurde und die sich die demokratische Zukunft nur schwer vorstellen konnten, fühlten sich von extremistischen Gruppen angesprochen, die sie zu einem kurzsichtigen Aktivismus verlockten. Dieses „Es muss jetzt etwas getan werden“ bedeutet jedoch Vorhandenes zu zerstören - ohne jegliche reflektierte oder gar konstruktive Absicht.

Immer wieder wurde die populistische Vorstellung der „verlassenen Kinder“ (das Volk), die auf den „autoritären Vater“ (die Streitkräfte) warten, der Ordnung in das Durcheinander bringt, durch Irreführungen und Lügen (zirkulierende Fake News) gegen die damalige Regierung von Dilma Rousseff abgerufen und angefeuert. Wer hätte sich vorstellen können, dass das alte Schreckgespenst des Kommunismus, was bereits dem Putsch von 1964 als Narrativ diente, mit so viel Kraft zurückkehren würde? Dass die Verteidigung der traditionellen Familie und der Freiheit, die bereits den Wegbereitenden der Militärdiktatur als Motto dienten, noch einmal zur moralischen Panikmache herhalten könnten?

Von 2013 bis 2018 wurde das Vergessen der Diktatur ausgenutzt, um das Gedankengut der Anti-Politik gegen die Arbeiterpartei (PT) und allgemein die Linke und für den Autoritarismus so weit zu verbreiten, dass 2016 der Weg für das fragwürdige Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff frei war. Darauf folgte die Vorbereitung der Präsidentschaftswahl von 2018, die zur Wahl des ehemaligen Hauptmanns der Streitkräfte Jair Bolsonaro mit einem General als Vizepräsidenten führte. Gewählt wurden somit die ausdrucksstärksten Vertreter mittlerweile konsolidierten extremen Rechten.   

Wo stehen wir heute?

Bolsonaros Amtszeit und die Angriffe auf die Regierungsgebäude in Brasília am 8. Januar 2023, dem misslungenen Putschversuch zur Wiedererlangung der Macht, zeigen deutlich, dass die Vergangenheit der Militärdiktatur noch lange nicht überwunden ist. Auch die Wahlniederlage Bolsonaros hat daran nicht viel geändert. Die Geschichte der Militärdiktatur wurde weder richtig erzählt noch wurden Gerechtigkeit und Wiedergutmachung des Unheils umgesetzt. Überwunden wird sie so lange nicht sein, wie die durch den Staat gestützte Gewalt weiterhin um sich greift – denn es gibt viele Amarildos, Claudias, Marielles (1) und viele Bauern und Bäuerinnen, Indigene und Anwohner*innen der Peripherie, die unter dem ständigen gewaltvollen Ausnahmezustand leiden, der zu oft in Straflosigkeit mündet.

Am 31. März 2024 jährt sich der Militärputsch zum 60. Mal. Dies soll eine Gelegenheit dafür sein, dass die demokratischen Bewegungen, Führungspersönlichkeiten und sozialen Gruppen, die sich für die Menschen- und Bürger*innenrechte stark machen, mit Aktionsformen gegen den Autoritarismus auf die Straßen gehen und so die Demokratie in Brasilien stärken - für die Erinnerung, für die Wahrheit und für Gerechtigkeit.

Eine Übersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch von Kirsten Grunert.


Den Originaltext sowie weiterführende Informationen über das brasilianische Amnestiegesetz von 1979 sowie die 1995 eingerichtete Sonderkommission für die aus politischen Gründen Ermordeten und Verschwundenen (CEMDP) und ihre Empfehlungen an den brasilianischen Staat finden Sie hier auf Portugiesisch.


Die Fälle der drei genannten Personen hatten den größten Widerhall in der Gesellschaft:

1) Amarildo Dias de Souza war ein Maurergehilfe, der 2013 verschwand, nachdem er in der Favela Rocinha in Rio de Janeiro von der Polizei festgenommen worden war. Nach einem großen sozialen Aufschrei wurden die beschuldigten Polizisten verurteilt.

2) 2014 wurde die Hilfskraft für allgemeine Dienstleistungen, Claudia da Silva Ferreira, während einem Polizeieinsatz von einem Querschläger getroffen. Ihr Körper wurde von einem Fahrzeug der Polizei über 350 Meter mitgeschleift, die behauptete, dem Opfer Hilfe geleistet zu haben.

3) Marielle Franco, damalige Stadträtin von Rio de Janeiro, wurde im März 2018 durch fünf Schüsse von der Miliz aus Rio de Janeiro nahestehenden Personen ermordet.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de