Allein im Jahr 2023 kamen über 1300 Menschen bei dem Versuch ums Leben, über das Mittelmeer zu fliehen, oder sind verschollen. Zur Situation der Seenotrettung.
Nach dem Ende der von Italien geführten Marineoperation Mare Nostrum 2014 gaben die europäischen Staaten ihre bisherige Politik einer proaktiven Seenotrettung im zentralen Mittelmeer schrittweise auf und begannen stattdessen, z.B. über eine von der EU mitfinanzierte libysche Küstenwache und den Ausbau der sog. Grenzschutzagentur „Frontex“ zusätzliche Hürden und Hindernisse für Flüchtlinge aufzubauen. Viele Menschenrechtsorganisationen beklagten, dass sich Europa damit aus seiner Verantwortung für das Überleben von Schutzsuchenden stahl - vergeblich. Zivile Seenotrettungsorganisationen begannen daraufhin, die Rettungslücke zu schließen und selbst auf das Mittelmeer hinauszufahren, um Menschenleben zu retten. Aber solche zivilgesellschaftlichen Rettungsprojekte ersetzen natürlich keine staatliche Rettungspolitik:
Mehr als 28.000 Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen seit 2014 im Mittelmeer ertrunken oder gelten als vermisst. Allein im Jahr 2023 kamen über 1300 Menschen bei dem Versuch ums Leben, über das Mittelmeer zu fliehen, oder sind verschollen. Nach UN-Angaben ertranken oder verschwanden in den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 bereits über 1000 Schutzsuchende, die meisten von ihnen auf der zentralen Mittelmeerroute1.
Statt angesichts dieser desaströsen Bilanz ihre Politik zu ändern und organisierte Rettungseinsätze zu koordinieren, setzen immer mehr europäische Staaten auf mehr Abschottung, Abschreckung, Abschiebung und die Auslagerung von Asylverfahren in Nicht-EU-Staaten. Die zivile Seenotrettung ist dabei zunehmend ein Dorn im Auge. Sie wird behindert, kriminalisiert und diffamiert. Neben dem Versuch der EU und ihren Mitgliedstaaten, die Verantwortung auf die Staaten, die südlich an das Mittelmeer grenzen, zu verlagern, wird daran gearbeitet, den rechtlichen Rahmen für die zivile Seenotrettung zu verschärfen – sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.
Vor allem die italienische Regierung versucht mit immer neuen Maßnahmen, die Seenotrettungsschiffe festzusetzen und Rettungseinsätze so zu verzögern. Zum Beispiel werden den Schiffen sehr weit entfernte Häfen zugewiesen mit der Folge, dass sie so unnötig viele Tausend Kilometer fahren müssen und viel Zeit verlieren. Zu dem Arsenal der Abschreckungs- und Kriminalisierungsmaßnahmen gehören auch das Festsetzen von Rettungsschiffen oder Strafverfahren gegen Seenotretter:innen. Die maltesische Rettungsleitstelle hat sich inzwischen vollständig aus der Koordinierung von Seenotfällen flüchtender Menschen zurückgezogen.
Jonas Grimheden, der Grundrechtsbeauftrage der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex, kommt in einem vertraulichen Bericht zum Schiffsunglück von Pylos zu dem Schluss, dass griechische Behörden über 15 Stunden lang keinerlei Rettungsmaßnahmen ergriffen haben, als das Flüchtlingsboot »Adriana« am 14. Juni 2023 vor der griechischen Stadt Pylos sank und mehr als 600 Menschen mit in den Tod riss – obwohl sie nach internationalem und europäischem Recht dazu verpflichtet gewesen wären.2
1 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/892249/umfrage/im-mittel…
2 https://www.proasyl.de/news/frontex-bericht-bestaetigt-griechenland-hat…