Asyl-Debatte: „Die demokratische Mitte rückt nach rechts“

Interview

Mehr Abschiebungen, Grenzverfahren, Auslagerung des Flüchtlingsschutzes: In der gegenwärtigen Asyl-Debatte geht es kaum um tatsächliche Lösungen wie die Entlastung der Kommunen. Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung von Pro Asyl, warnt davor, rechte Positionen in der Asylpolitik zu übernehmen. Stattdessen müsse geltendes Völkerrecht an den EU-Außengrenzen durchgesetzt und die Menschenrechte verteidigt werden.

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Kundgebung gegen die geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) am 9. Juni 2023 in Berlin.

Christian Jakob: Sie verfolgen seit Jahrzehnten die Entwicklungen in der Asylpolitik. Sind Sie in den letzten Wochen noch mitgekommen?

Karl Kopp: Als die Grünen im Juni dem Umbau des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) mit den Schnellverfahren in geschlossenen Lagern an den Außengrenzen, der Aufweichung des Konzepts der sicheren Drittstaaten zustimmten, fragten sich alle: Wie kann man den Flüchtlingsschutz auf der europäischen Ebene nur so ausverkaufen? Dieser realpolitische Move der Ampel-Regierung, die großen Zugeständnisse in Richtung Abbau des Menschenrechtsschutzes und der Asylrechtsstandards, hat die Debatte aber nicht beruhigt, sondern den Wettbewerb der Restriktionen verschärft. Innenpolitisch sehen wir eine ähnliche Entwicklung.

Wie sieht die aus?

Die Verrohung in der Wahl der Worte, die immer neuen flüchtlingsfeindlichen Maßnahmen wie die Herabsetzung der Sozialleistungen oder die Forderung nach mehr Abschiebungen und der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes, bis hin zur Abschaffung des Asylrechts: All dies macht nicht nur die Rechtsextremen und Demokratiefeinde stark. Es sind auch Zeichen einer politischen Krise.

Warum?

Es geht in der gegenwärtigen Asyl-Debatte kaum um tatsächliche Lösungen wie die Entlastung der Kommunen. Zahlreiche Vorschläge sind völlig faktenfrei, manche einfach nur bizarr oder zynisch: Asylverfahren in Afrika, das Modell Ruanda und Deals mit Autokraten. Wenn jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, die Lösung angesichts der Krise des europäischen Flüchtlingsschutzes liegt in Ruanda, hätten die meisten Leute gelacht. Heute wird das ernsthaft diskutiert.  

Vielen scheint offen, ob es um graduelle Verschärfungen geht oder ob das Asylrecht insgesamt abgeräumt werden soll. Was glauben Sie?

Es geht ans Eingemachte. Der herrschende Konsens ist, die Zahlen der Ankommenden muss runter. Da gibt es viele kleine Stellschrauben der Restriktion, die an Maßnahmen der 1990er-Jahre erinnern. Daneben werden sehr brachiale Lösungen vorgeschlagen: Was ist der optimale Deal, um Geflüchtete abzuwehren oder in vermeintlich sichere Drittstaaten zurückzuschicken? Dahinter steht die grundlegende Auseinandersetzung um das individuelle Asylrecht, um den Schutz vor Zurückweisung. Völkerrechtlich ist dies in der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechte-Charta der EU und anderen Menschenrechtsabkommen fest verankert.

Warum halten Sie die Gültigkeit dieser Normen gerade insgesamt für gefährdet?

Diese historischen Errungenschaften werden attackiert, wenn kritisiert wird, dass es ‚zu viele‘ Rechte für Schutzsuchende an der Grenze gibt: Dass sie nicht einfach zurückgewiesen werden dürfen, dass sie Anrecht auf ein faires Asylverfahren haben, dass menschenwürdige Aufnahmestandards gewahrt werden müssen. Das sind Prinzipen, die man vor einiger Zeit nicht hinterfragt hat, wenn man sich im demokratischen Spektrum verortet.

Die Befürworter etwa des GEAS oder der Verfahren in Drittstaaten argumentieren, dass so Grundrechte erhalten werden sollen, weil sonst die Forderungen nach noch weitergehenden Verschärfungen nicht abgewendet werden können.

Bei den angestrebten Kooperationen mit Drittstaaten – um jeden Preis – werden die Grundrechte nicht verteidigt, sondern genau diese Rechte werden ausverkauft. Zynisch formuliert ist das Abkommen mit Libyen – der blutigste Deal der europäischen Flüchtlingspolitik – sicherlich der erfolgreichste nach den Kriterien, die heute angelegt werden. Wer die Einreisen von Schutzsuchenden so verhindern will, delegiert Menschenrechtsverletzungen an Dritte, versucht sich durch das Zurückschleppen von Flüchtlingsbooten aus der Verantwortung zu stehlen. Europa nimmt dabei in Kauf, dass zehntausende Menschen zurück in Folterlager geschickt werden. Die EU kooperiert mit kriminellen Banden wie der sogenannten libyschen Küstenwache, finanziert sie und zieht sich selber immer mehr aus der Seenotrettung zurück. Wer die große Reduktion der Ankommenden entlang einer Fluchtroute will, der weiß, dass der Weg ein brutaler ist. Er lässt sich nur beschreiten, wenn man sich nicht von Menschenrechten und internationalen Konventionen binden lässt. Wollte Europa ernsthaft das Sterben im Mittelmeer beenden, müssten reguläre Fluchtwege eröffnet und eine europäische Seenotrettung etabliert werden.  

Viele sagen, ohne die Reformen gewinnen Rechte die Wahlen und räumen mit dem individuellen Grundrecht auf Asyl auf. Ist das ein legitimer Versuch, den großen Abbau abzuwenden?

Ja, ja, es geht immer darum, das Schlimmste abzuwenden. Wer aber ständig Zugeständnisse an die Rechten macht, der nimmt in Kauf, dass Europa die Menschenrechte und sich selbst verliert. Dass der Flüchtlingsschutz in Europa erodiert und die wenigen aufnahmebereiten Staaten unter Druck geraten, war auch im Juni keine neue Erkenntnis. Da hieß es: ‚Um das Schlimmste zu verhindern, treten wir jetzt für die Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen ein. Das ist nicht schön, vor allem Kinder und Familien sollten diesem Regime nicht unterworfen werden‘. Ob das Versprechen in den laufenden Trilogverhandlungen zum GEAS-Umbau eingelöst wird, ist fraglich. Die Haltelinien aber rutschen immer weiter nach unten. Und selbst diese geplanten Abrissmaßnahmen werden die Rechten nicht daran hindern weiterhin zu sagen: ‚Das reicht noch nicht.‘ Sie wollen den großen Schlag, der aber unter demokratischen und rechtsstaatlichen Bedingungen nicht machbar ist.

Der öffentliche Druck die Asylzahlen zu senken, ist in Deutschland und in Europa enorm. Was sollte die Ampel tun?

Die Europa-Kapitel des Koalitionsvertrages haben keine Bedeutung mehr. Darin steht, man wolle das Leid an den europäischen Außengrenzen, das Sterben beenden. Das sind richtige Zielvorstellungen, die wir alle teilen.

Wie ließe sich denn ein Zustand schaffen, in dem das realisierbar wäre?

Eine echte Reform des GEAS wäre: Die Ampel sollte auf das bestehende Recht, das real existierende EU-Recht pochen: Aufnahmerichtlinie, Qualifikationsrichtlinie und Verfahrensrichtlinie müssten auch mit Sanktionen gegenüber den Mitgliedsstaaten durchgesetzt werden. An den Außengrenzen muss das Völkerrecht durchgesetzt werden. Das wäre der europäische Ansatz. Ergänzend sollte eine europäische Seenotrettung finanziert und organisiert werden, als Gemeinschaftsaufgabe. Um Leid, Gewalt und Rechtsverletzungen an den Außengrenzen zu beenden, sollte außerdem ein Überwachungsmechanismus geschaffen schaffen, der Menschenrechtsstandards überwacht und durchsetzt. Innereuropäisch wären andere Formen der Solidarität, der Verantwortungsteilung nötig, weil das Dublin-System schon lange gescheitert ist. Die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten zeigt, dass es anders geht.

Aber das Problem ist doch im Moment, dass es in der EU überhaupt keine Zustimmung für menschenrechtliche Verbesserungen gibt, sondern fast alle Regierungen mehr Abschottung wollen.

Das ist zutreffend. Dennoch ist es wichtig den menschenrechtlichen Kompass nicht zu verlieren. Die Herausforderung ist, das Fundament der EU-Menschenrechte – Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – zu verteidigen. Die demokratische Mitte rückt so weit nach rechts und beschert den Rechtsextremen und Europafeinden Erfolge. Wenn grundlegende Menschenrechts- und Menschenwürdestandards verletzt werden sollen, ist es nicht zu viel verlangt, ruhig und entschlossen Haltelinien einzuziehen, um diese im EU-Vertrag verbrieften Werte zu verteidigen.

Was hieße das für die Realpolitik?

Die Ampel hätte viel früher ernsthaft eine innenpolitische Auseinandersetzung führen müssen über die Frage, wie die Kommunen adäquat finanziert werden, wie die Drucksituationen vor Ort adressiert werden. Die Zivilgesellschaft hat hierzu sehr viele Vorschläge unterbreitet. Stattdessen werden flüchtlingspolitische Fragen missbraucht, um die Verantwortung für gesamtgesellschaftliche Versäumnisse und infrastrukturelle Mängel auf Geflüchtete zu schieben. Die positiven Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr hätten genutzt werden können.

...die Erfahrung mit den ankommenden Ukrainer:innen?

Ja. Die zeigt, dass dem Mangel an behördlich organisierten menschenwürdigen Unterbringungen zumindest teilweise erfolgreich begegnet werden kann, wenn auch Asylsuchende ihren Wohnort frei wählen können. Nach einem kurzen Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung sollte eine private Unterbringung, zum Beispiel bei Freund*innen und Verwandten, ermöglicht werden.

Viele Kommunen klagen heute aber auch deshalb über Überlastung, weil sie nach wie vor viele Ukrainer:innen unterbringen müssen.

Anstatt von einer vermeintlichen Entlastung der Kommunen durch mehr Abschiebungen zu reden, wäre eine andere Botschaft dringend geboten: Derzeit bekommen über 70 Prozent der Schutzsuchenden einen Status, das ist ein Rekordniveau. Die Unterstützungsstrukturen für diese Menschen müssen gestärkt und finanziert werden. Wenn im Bundeshaushalt ausgerechnet Mittel in diesem Bereich gekürzt werden, ist das gesellschaftspolitisch unklug.

Wie erklären Sie sich, dass die Ampel anders handelt?

Falsche Prioritätensetzung. Die sogenannte Asylwende, im April dieses Jahres, wurde von einem relativ kleinen Kreis der Spitzenleute eingeleitet und erst gar nicht und danach schlecht mit der eigenen Basis und der Öffentlichkeit kommuniziert. Die Grünen haben eine starke asylrechtliche DNA, sie haben eine Basis, die sehr stark in der Menschenrechtsarbeit und Flüchtlingssolidarität verankert ist. Nun findet ein sehr tränenreicher und schmerzhafter Häutungsprozess statt.

Oft heißt es, dass viele der beschlossenen Maßnahmen die Ankunftszahlen nicht drücken werden. Wie wird es dann weitergehen?

Alle sagen, es gibt nicht die eine große Lösung, es sind viele Stellschrauben. Dann werden neue Restriktionen wie bei der Runde der Ministerpräsidenten mit dem Kanzler beschlossen. Dann geht ein Teil raus und sagt: ‚Wir haben zwar ein paar härtere Maßnahmen beschlossen, aber das reicht nicht.‘ Die Folge: Die Akzeptanz für die Flüchtlingsaufnahme schrumpft weiter, die AfD wird immer stärker und die Ampel zerlegt sich. Der Rechtsruck, der sich ja schon in den Wahlen gezeigt hat, macht deutlich: Wer das Programm der AfD oder von Rechtspopulisten übernimmt, der stärkt diese.  

Das war jetzt der Blick zurück, was wird künftig geschehen?

Es gibt objektive Herausforderungen bei der menschenwürdigen Unterbringung: Knapp eine Million ukrainischer Geflüchteter, 200.000 Asylanträge im vergangenen Jahr, dazu vielleicht 300.000 in diesem Jahr. Das sind große Herausforderungen, die trotz prekärer Infrastruktur bewältigt werden müssen. Gleichzeitig ist es um die EU herum wahrlich nicht friedlicher geworden, Fluchtgründe bestehen fort. Nun demontieren 27 EU-Staaten sukzessive das europäische Schutzsystem. Es wäre fatal, wenn sich Deutschland als gewichtiger und positiver Akteur bei der Flüchtlingsaufnahme in Europa nun Schritt für Schritt dem Club der Unwilligen annähern würde. Neben all dem Leid, das zu befürchten ist, stellt sich für uns die Frage, wohin das führen soll.

Welches Szenario ist da wahrscheinlich?

Aus dem Rechtsraum EU würde definitiv ein Unrechtsraum, der sich kaum mehr von autokratischen Regimen unterscheiden würde. Es sind ja nicht nur Mauern und Zäune, sondern auch die Akzeptanz von Gewalt und Entrechtung, die immer mehr zur Norm werden. Das ist per se schon dramatisch. Aber es ist auch klar, dass eine Gesellschaft, die das zulässt, auch bereit ist in anderen Bereichen die Gewaltförmigkeit und die Aufgaben von demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien zu praktizieren.

An welche Bereiche denken Sie?

Ein Staatenverbund, der exzessive Gewalt an den Außengrenzen duldet, Menschenrechtsverletzungen mitfinanziert, schwere Straftaten gegen Schutzsuchende in der Regel nicht aufklärt und verurteilt, hat ein massives Rechtsstaats- und Demokratieproblem. Der Flüchtlingsbereich ist oft das Labor, der Einstieg in stigmatisierende Modelle, die dann auch andere gesellschaftliche Gruppen treffen. Man sieht aktuell eine alte Melange von schlechten und kurzsichtigen Entscheidungen, die Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen nicht adressieren. Wenn man sagt, die Flüchtlinge sollen kein Bürgergeld kriegen oder die sollen arbeiten gehen oder gemeinnützige Arbeit leisten, dann kommen die Faktenchecks, die erklären, dass Arbeitsverbote und mannigfaltige Bürokratie-Hindernisse existieren. Aber direkt in der nächsten Schleife werden generell Bezieher*innen von Bürgergeld ins Visier genommen. Da sind wir jetzt.

In welchem Zustand ist die Zivilgesellschaft, die nun härtere Auseinandersetzungen führen muss?

In Deutschland ist die Zivilgesellschaft immer noch relativ gut aufgestellt. In zahlreichen EU- Ländern sind die Einschränkungen hingegen sehr besorgniserregend – etwa in Ungarn, Polen oder Griechenland. Aber auch da ist die Zivilgesellschaft trotz aller Repression immer noch stark. Und wir müssen davon ausgehen, dass mit der autoritären Entwicklung in Europa, auch in Teilen Deutschlands, die Arbeit der Zivilgesellschaft immer mehr unter Druck kommt. Wir waren lange Zeit in einer relativ ruhigen und privilegierten Position. Aber unsere Kolleg:innen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, wo 2024 Landtagswahlen anstehen, befürchten einen Wahlkampf auf dem Rücken Schutzsuchender und einen starken Machtzugewinn der AfD. Solidarität ist ja in mehrfacher Hinsicht unteilbar. Unsere Solidarität gilt den Schutzsuchenden, aber auch den Kolleg:innen, die jetzt etwa in den Grenzregionen die Grundrechte verteidigen. Wir handeln verstärkt in einer europäischen Koalition. Wir sind dabei nachhaltige Kooperationen eingegangen, um für die Rechte von Geflüchteten, für die Rechte derer, die auf den Booten ankommen, zu kämpfen. Dafür müssen wir Unterstützungsstrukturen erhalten und weiterentwickeln. Das ist unsere Pflicht.