Warum fliehen Menschen? Wie viele Menschen sind auf der Flucht? Woher kommen die Geflüchteten in Deutschland? Was sind "sichere Herkunftsländer"? Hier beschäftigen wir uns mit Fluchtursachen, Fakten und populistische Strategien für eine informierte Debatte.
Warum fliehen Menschen?
Hinter jeder Fluchtgeschichte stehen Einzelschicksale von Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen zur Flucht gezwungen sahen. Kein Mensch setzt sein Leben leichtsinnig aufs Spiel und lässt freiwillig Familie, Freund*innen und jeglichen Besitz auf unbestimmte Zeit zurück.
Vielfältige Gründe zwingen Menschen dazu, ihr Heimatland zu verlassen: politische, rassistische, religiöse oder auf sexueller Orientierung und/oder Identität beruhende Verfolgung, unmenschliche Behandlung und Unterdrückung, Krieg, Verlust von Lebensraum, Armut, Hunger und vieles mehr. Wirtschaftliche Not wird nicht als Fluchtgrund anerkannt, obwohl sie sich häufig als Konsequenz politischer Konflikte ergibt. Auch die Flucht vor Umweltkatastrophen, steigenden Meeresspiegeln oder Hungersnöten begründet keinen Asylanspruch. Bei vielen dieser Fluchtgründe tragen Industriestaaten wie Deutschland eine Mitverantwortung. Waffenlieferungen, Umweltverschmutzung, Ressourcenausbeutung, fortwirkende Folgen der Kolonialpolitik sowie wirtschaftliche und politische Interessen der wirtschaftlichen Zentren stehen Bemühungen um Frieden und soziale Gerechtigkeit oftmals entgegen. Neben den genannten Gründen kommen für Mädchen und Frauen Motive wie die Bedrohung durch ihre Familie oder ihren Partner, Zwangsverheiratungen, Gewalt im Namen der Ehre, Genitalverstümmelungen und häusliche Gewalt hinzu. Ferner werden viele Personen aufgrund ihrer sexuellen Identität und Orientierung in ihren Herkunftsländern verfolgt und bedroht.
Wie viele Menschen sind weltweit auf der Flucht?
Im Jahr 2022 waren lt. UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) ca.108,4 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Die Hälfte der Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Staatenlosen sind Frauen und Mädchen. Mehr als 62 Millionen Menschen suchten im eigenen Land Schutz vor Verfolgung, Krieg, Hunger und Not. Diese Binnenvertriebenen sind oft ältere Menschen, Frauen mit Kindern oder kranke Personen. Von den Flüchtlingen, die 2022 auf der Suche nach Schutz ihr Herkunftsland verließen, kamen 52 % aus Syrien (6,5 Mio.), aus Afghanistan (6,1 Mio.) und aus der Ukraine (5,9 Mio.). 70% dieser Menschen flohen in ein unmittelbares Nachbarland. Im weltweiten Vergleich haben 2022 die Türkei und der Iran die meisten geflüchteten Menschen aufgenommen (jeweils 3,4 Mio.). Deutschland steht 2022 an vierter Stelle der Aufnahmeländer weltweit mit 2.1 Mio. anerkannten Flüchtlingen.1 In Folge des Kriegs in der Ukraine haben etwa 1.1 Mio. Flüchtlinge aus der Ukraine vorübergehenden Schutz in Deutschland erhalten (Mai 2024). 76% aller Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, werden von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen aufgenommen.2
Woher kommen die Geflüchteten?
Nur ein kleiner Bruchteil aller weltweit Geflüchteten kommt nach Deutschland. Die konkreten Zahlen schwanken dabei von Jahr zu Jahr. 2023 wurden in Deutschland ungefähr 329.120 Menschen als Flüchtlinge neu registriert. 2016 waren es noch etwa 722.00 Menschen, die Schutz in Deutschland suchten. Welche Menschen als Schutzsuchende aufgenommen und anerkannt werden, ist vor allem eine Frage des Zugangs zum Territorium. Das laut Grundgesetz und Genfer Flüchtlingskonvention verbriefte Recht auf Asyl kann nur in Anspruch nehmen, wer die Hürden überwindet, die zur Verhinderung einer Flüchtlingsaufnahme aufgebaut werden.
Zeichnen wir die Kurve der Asylsuchenden, die Deutschland erreichen, wird deutlich, dass wir uns heute deutlich unter dem Niveau von 2015 und 2016 bewegen.
Was bedeutet das für Niedersachsen?
Niedersachsen ist nach dem „Königsteiner Schlüssel“, welcher aus dem Steueraufkommen und der Bevölkerungszahl der einzelnen Bundesländer berechnet wird und die Aufnahmequoten Geflüchteter für die einzelnen Bundesländer bestimmt, für 9,4 % der in Deutschland registrierten Flüchtlinge zuständig. So wurden für Niedersachsen von Januar bis Dezember 2023 insgesamt 27.995 Asylanträge verzeichnet, 26.144 davon waren Asylerstanträge und 1.851 Folgeanträge. Nach Niedersachsen kamen dabei vor allem Geflüchtete aus Syrien, der Türkei und Afghanistan.
„Sichere Herkunftsländer“
Die 1993 in Paragrafen gegossene Definition der „sicheren Herkunftsländer“ ist einer der fünf Bausteine des so genannten Asylkompromisses, die auf die Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes folgte. In Deutschland gelten die Mitgliedstaaten der EU sowie die sechs Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien als „sichere Herkunftsstaaten“, außerdem auch Georgien, Moldau, Ghana und Senegal. Eine Ausweitung auf die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien wird von rechten Parteien seit langem gefordert.
Solche populistischen Forderungen sind jedoch hochproblematisch: Hier wird aus politischen Gründen eine Bewertung für ganze Personengruppen vorweggenommen, für die doch eigentlich das Bundesamt und die Gerichte in individuellen Verfahren zuständig sind. Das Bundesverfassungsgericht hat daher die Grenzen für die Bestimmung sogenannter “sicherer Herkunftsstaaten” sehr eng gezogen:
Ein Staat kann gemäß Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG dann zum sicheren Herkunftsstaat bestimmt werden, wenn "gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet". Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in einem Urteil von 1996 konkrete Vorgaben formuliert: Sei etwa eine nur regionale politische Verfolgung feststellbar, so sei eine Anerkennung als “sicheres Herkunftsland” ebenso ausgeschlossen wie bei Verfolgung von Angehörigen nur von bestimmten Gruppen. "Eine derart eingegrenzte Feststellung des Fehlens politischer Verfolgung würde auch Inhalt und Funktion der Herkunftsstaatenregelung widerstreiten: Art. 16a Abs. 3 GG ist darauf gerichtet, für bestimmte Staaten im Wege einer vorweggenommenen generellen Prüfung durch den Gesetzgeber feststellen zu lassen, dass in ihnen allgemein keine politische Verfolgung stattfindet und deshalb die (widerlegbare) Vermutung der offensichtlichen Unbegründetheit individueller Asylbegehren aufgestellt werden kann. Dieses Konzept gerät indes schon ins Wanken, wenn ein Staat bei genereller Betrachtung überhaupt zu politischer Verfolgung greift, sei diese auch (zur Zeit) auf eine oder einige Personen- oder Bevölkerungsgruppen begrenzt. Tut er dies, erscheint auch für die übrige Bevölkerung nicht mehr generell gewährleistet, dass sie nicht auch Opfer asylrechtlich erheblicher Maßnahmen wird.”
Daher dürfen nur solche Staaten als sichere Herkunftsstaaten gelten, in denen Sicherheit vor Verfolgung „landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen“ besteht.
Die Einstufung als „sichere Herkunftsstaaten“ setze darüber hinaus voraus, dass eine gewisse Stabilität und hinreichende Kontinuität der Verhältnisse bereits eingetreten ist und deshalb weder Verfolgungshandlungen noch unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung stattfinden. Der Gesetzgeber sei zudem verpflichtet, eine gründliche antizipierte Tatsachen- und Beweiswürdigung der verfügbaren Quellen vorzunehmen, wenn er einen Staat als sicher listen wolle.
- Diesem engen verfassungsrechtlichen Rahmen wird die Asylpraxis schon lange nicht gerecht: Trotz der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexualität und LSBTIQ* wurden die Länder Ghana und Senegal nicht von der Liste der “sicheren Herkunftsländer” gestrichen. Die Republik Moldau wurde zum “sicheren Herkunftsland” erklärt, obwohl das Land als “Hybridregime” eingestuft ist und in Teilen des Landes (Transnistrien) auch kriegerische Auseinandersetzungen stattfanden. Die Einstufung der Maghreb-Staaten als “sichere Herkunftsländer” würde nicht nur die politische Verfolgung von LSBTIQ* und ein Verbot von Homosexualität legitimieren, sondern etwa auch die von der Regierung angeheizte rassistische Gewalt in Tunesien. Das Auswärtige Amt hat für Algerien eine (Teil)Reisewarnung ausgegeben, die Oppositionsparteien treffen sich im Exil, weil sie sich in Algerien nicht sicher fühlen. Marokko ist eine Monarchie, die nach Auffassung des BMZ zwar “demokratische Elemente” habe, aber “weiterhin Defizite in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Transparenz” aufweise. “Nichtregierungsorganisationen kritisieren unter anderem Einschränkungen der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit sowie die strafrechtliche Verfolgung von Journalistinnen und Journalisten sowie von Personen, die sich für die Menschenrechte engagieren.”
- Die Beispiele zeigen, dass Forderungen nach einer Ausweitung der Liste “sicherer Herkunftsstaaten” oftmals eine Sicherheit unterstellen, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen eben nicht gegeben ist, und insofern einen demokratischen Sicherheitsbegriff missbrauchen.