Im Blindflug: Myanmar in der Coronakrise

Kommentar

Bei geringen Test-, aber wachsenden Infektionszahlen versucht Myanmars Regierung quasi im Blindflug durch einen Lockdown die Coronakrise zu meistern. Der Zusammenbruch des Bekleidungsexports nach Europa führt zu stark wachsender Arbeitslosigkeit, während bewaffnete Konflikte vor allem in Rakhine weitergehen und kritische Berichterstattung dazu kriminalisiert wird.

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Lockdown in Yangon

Mitten in der Coronakrise befindet Myanmar sich im Blindflug. Bei geringer Testintensität sind die offiziellen Infektionszahlen nach wie vor gering, steigen aber inzwischen rasch (144 am Morgen des 25.4.2020 – Verdoppelung innerhalb von etwa 10 Tagen). Die reale Infektionszahl ist vermutlich wesentlich höher. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber ist völlig unklar, ob Myanmar eine vorläufige Eindämmung der Pandemie nach dem Muster anderer südostasiatischer Länder gelingen könnte oder ob dem Land eine dramatische Eskalation bevorsteht.

Nach anfänglichem Zögern und teilweise auch grob irreführender Kommunikation[1] hat die Regierung auf die Lage reagiert: Früh erfolgte bereits eine Schließung der langen Landgrenze nach China und eine Ankündigung, die öffentlichen Veranstaltungen zum buddhistische Neujahrsfest Thingyan (13.-16.4.) dieses Jahr ausfallen zu lassen. Seit Mitte März bestehen weitreichende Reisebeschränkungen, seit dem 10.4. ein Lockdown mit starken Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im ganzen Land. In Yangon werden Straßenzüge, Apartmentblocks und Hotels, in denen Infektionsfälle nachgewiesen wurde, abgesperrt, und ab 22:00 Uhr nachts gilt eine generelle Ausgangssperre. Zehntausende von Migrantinnen und Migranten, die für das Thingyan-Fest aus den Nachbarländern nach Myanmar zurückkehrten, müssen sich für mehrere Wochen in Quarantänestationen begeben, die an der Grenze und von Lokalverwaltungen im ganzen Land eingerichtet worden sind.[2] All diese Maßnahmen sind Ausdruck eines Willens zum Handeln, aber auch der Hilflosigkeit angesichts der Krise: Einzelne Maßnahmen wirken unzureichend, andere erratisch und hart. Soweit sich das derzeit beurteilen lässt, werden Informationen über Infektionsfälle durch staatliche Institutionen zumindest nicht unterdrückt (außer möglicherweise beim Militär, das in dieser wie in vieler anderer Hinsicht eine Black Box bleibt).

Nur rund 200 Beatmungsgeräte stünden für das ganze Land zur Verfügung, so war vor einigen Wochen zu hören. Die Weltgesundheitsorganisation hatte in ihrem letzten vergleichenden Ranking aus dem Jahr 2000 Myanmar das schlechteste Gesundheitssystem der Welt (Platz 190 von 190) attestiert. Die Situation hat sich seither verbessert, aber das Gesundheitswesen ist im südostasiatischen Vergleich weiterhin sehr schlecht ausgestattet. Die Behandlungsmöglichkeiten einer Pandemie sind entsprechend begrenzt. Wer es sich leisten kann, reist traditionellerweise für die Behandlung von mehr als trivialen Gesundheitsproblemen nach Bangkok, was gegenwärtig aufgrund von Reisebeschränkungen keine Option mehr ist. Zwei typischerweise von Expatriates und der lokalen Mittelklasse genutzte Kliniken in Yangon waren bereits Anfang April aufgrund von Quarantänemaßnahmen nach Infektionsfällen nicht mehr voll funktionsfähig.

Lockdown und wirtschaftliche Folgen

Im gegenwärtigen Lockdown stellen staatliche Stellen und private Einrichtungen mancherorts Nahrungsmittelhilfe bereit. Die Regierung hat in begrenztem Umfang (ca. 72 Mio. USD) Finanzhilfen für Unternehmen bereitgestellt, die allerdings nur kurzfristig orientiert sind. Staatliche Hilfe wird – eine lokale Tradition, die noch aus der Zeit der Militärregierungen stammt – teilweise durch eingeworbene Spenden von Unternehmen und Einzelpersonen finanziert.[3]

Es gibt in Myanmar – wie in anderen Ländern mit verbreiteter Armut und großem informellen Sektor, v.a. in Indien – eine gewisse Kritik an der Angemessenheit der gegenwärtig verfolgten Strategie des harten Lockdowns: Für arme Bevölkerungsgruppen ohne finanzielle Reserven erscheinen aktuelle Einkommensverluste kurzfristig wesentlich schwerwiegender als das generelle Krankheitsrisiko; auch macht eine „flattening-the-curve“-Strategie in einem schwachen Gesundheitssystem, in dem viele arme Menschen ohnehin kaum Zugang zu qualifizierten Dienstleistungen haben, weniger Sinn als in Europa. Aber bislang werden diese Zweifel und diese Kritik in Myanmar nicht breit diskutiert, und es gibt kaum sichtbaren Protest gegen den Lockdown – auch wenn dieser in der Realität in zahllosen Fällen unterwandert wird.

Schon im Februar/März 2020 wirkten sich die Grenzschließungen negativ auf den Handel mit China aus, insbesondere für landwirtschaftliche Güter (z.B. Wassermelonen) und auch bei den Inputs für die Bekleidungsindustrie. Für diesen Sektor ist jetzt die Nachfrage aus dem Westen eingebrochen, was zu Fabrikschließungen, Entlassungen und harten industriellen Konflikten geführt hat. Arbeiterinnen (80-90% der Beschäftigten in diesen Betrieben sind Frauen) protestierten für Lohnfortzahlungen, während die Regierung den schwierigen Balanceakt verfolgt, die Unternehmen einerseits zur Kooperation mit Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Gesundheit (einschließlich phasenweiser Betriebsschließungen) und andererseits zur sozialen Absicherung ihrer Arbeitskräfte zu bewegen. Die Europäische Union, die seit über einem Jahr den Entzug der Handelspräferenzen unter der Everything-but-arms-Initiative wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen in Rakhine und anderen Landesteilen androht, hat in einem Notprogramm Mittel für die Zahlung von Löhnen und Mieten für arbeitslose Beschäftigte der Bekleidungsindustrie bereitgestellt.[4]

Ein Wettbewerb um Legitimität

Bislang wird die Politik der Regierung in der Coronakrise nicht ernsthaft infrage gestellt. Staatsrätin Aung San Su Kyi geht mit ermutigenden Händewasch-Videos als Vorbild voran (und musste gerade erst einem Gerücht entgegentreten, sie habe einen Coronatest machen müssen). Bislang schlägt sich die ohnehin nur teilweise von der gewählten Regierung kontrollierte Verwaltung wacker genug, dass es noch zu keiner allzu offenkundigen Machtverschiebung hin zum Militär gekommen ist. Dem Militär wird bisweilen unterstellt, es könne im Krisenfall effizienter agieren als der Staatsapparat, aber bislang konnte und durfte es dies nicht wirklich beweisen. Im Alltag bleibt das Militär zumindest in Yangon unsichtbar.

Dennoch ist die politische Bedeutung des Militärs im Krisenmanagement bereits jetzt gewachsen: Das Innenministerium ist ohnehin durch Militärvertreter besetzt, und in einer zur Bekämpfung der Pandemie eingerichtete Task Force spielen Militärvertreter eine zentrale Rolle.[5] Diese Tendenz könnte sich bei einer Verschlechterung der epidemiologischen Situation weiter zunehmen.

Die Coronakrise verstärkt bislang eher unausgesprochen den Wettstreit zwischen den beiden Machtzentren im Land – der gewählten Regierung und dem Militär – um politische Legitimität insbesondere bei der ethnisch-burmesischen Kernbevölkerung des Landes.

Kriegführung und Einschränkungen der Pressefreiheit

Zugleich aber führt das burmesische Militär seinen Krieg gegen ethnische bewaffnete Organisationen fort, vor allem im Norden des Rakhine State (und dort offenkundig auch mit ausdrücklicher Zustimmung der zivilen Regierung unter Aung San Suu Kyi). Dort geht es gegen die Arakan Army (AA), die bewaffnete Organisation der buddhistischen ethnischen Rakhine-Bevölkerung, die für Autonomie vom burmesischen Zentralstaat kämpft. Dies ist aktuell das Gebiet mit der höchsten Konfliktintensität des Landes; es gibt täglich Kämpfe und die Bevölkerung ganzer Landstriche ist seit Monaten vom Zugang zum Internet abgeschnitten. Die staatliche Armee hat einen generellen Waffenstillstand aufgrund der Covid-19-Situation, wie er von einigen der anderen ethnischen bewaffneten Organisationen angeboten worden war, abgelehnt.

Im Schatten der Pandemie geht die Regierung verschärft repressiv gegen Medien und zivilgesellschaftliche Kräfte vor, insbesondere gegen Akteure, die in politischer Nähe zur AA stehen, oder auch mit Verhaftung von Journalisten, die nur Interviews mit Vertretern der AA geführt haben. Die Rechtsgrundlage dafür liegt in der am 23.3. erfolgten Erklärung der AA zur „terroristischen Organisation“ – eine Klassifizierung, die gegen andere ethnische bewaffnete Organisationen nicht verwendet wird und den politischen Verhandlungsspielraum entschieden einschränkt.

In der zu Thingyan üblichen Amnestie wurden 25.000 Strafgefangene freigelassen, darunter allerdings nicht diejenigen politischen Gefangenen aus jüngerer Zeit, die wegen satirischer „Diffamierung“ des Militärs inhaftiert sind.

Auch wenn das Land sich im Lockdown befindet, sind Myanmars Konflikte nicht einmal übergangsweise stillgelegt worden.


[2] Aktuelle Daten zu diesen und anderen Aspekten der Krise, basierend auf Regierungsangaben, aber in englischer Sprache, finden sich bislang zuverlässig auf dem „surveillance dashbord“ für Myanmar, https://datastudio.google.com/u/0/reporting/445c1281-c6ea-45e4-9bc0-5d561c511354/page/I44CB

[5] Dies prophezeite Anfang April der bekannte Myanmar-Beobachter Bertil Lintner in https://asiatimes.com/2020/04/covid-19-restores-myanmar-militarys-lost-powers/