Joe Bidens hausgemachte Katastrophe: Zum Abzug der USA aus Afghanistan

Kommentar

Der US-Abzug aus Afghanistan ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe. Er ist auch ein politisches Debakel für die Biden-Regierung. Denn er stellt ihre Kompetenz und Wertegebundenheit ebenso infrage wie die Verlässlichkeit der USA als internationaler Partner.

Die erschütternden Bilder und Berichte aus Afghanistan prägen die Nachrichtenlage in den USA seit Wochen. An zweiter Stelle der Berichterstattung steht die massive COVID-Welle im Land, welche die frühen Erfolge der Impfkampagne der Biden-Regierung weitgehend Zunichte gemacht hat. Zusammen genommen ergibt dies ein Bild einer überforderten US-Regierung, die nicht in der Lage ist, komplexe innen- und außenpolitische Herausforderungen verantwortlich zu bewältigen.

Entsprechend sinken die Zustimmungswerte für Präsident Biden, die Hälfte der Befragten sieht seine Amtsführung bereits negativ. Das ist keine gute Ausgangslage mit Blick auf die Zwischenwahlen im kommenden Jahr.

Während die dramatische COVID-Situation vor allem den Republikanern anzulasten ist und ihrer unverantwortlichen Anti-Masken- und Anti-Impf-Politik, so ist das Afghanistan-Desaster hausgemacht. Joe Biden trat hier zwar ein schweres historisches Erbe an, vor allem aufgrund des schäbigen Deals Donald Trumps mit den Taliban aus dem letzten Jahr. Aber die letztliche Entscheidung für den Truppenabzug, für den zeitlichen Fahrplan und die Umsetzung, liegt bei ihm und seiner Regierung.

Jenseits der humanitären Katastrophe, die sich nun abspielt, ist dies ein politisches Problem für Biden, weil es die Kernkompetenzen infrage stellt, auf denen sein Wahlsieg über Donald Trump und das nationale und globale Ansehen seiner Regierung basierte.

Chaos statt Kompetenz

Nach den chaotischen Jahren der Trump-Zeit hatte Biden versprochen, zurück zu Kompetenz und Professionalität zu kehren. Expertise galt nun wieder etwas in Washington, die vornehmlich besten und klügsten Köpfe wurden in der neuen Regierung versammelt. Seriös und vorausschauend sollte die Politik wieder werden, berechenbar, ohne Richtungswechsel aufgrund nächtlicher Tweets.

So sollte nicht nur Vertrauen in die Regierungsführung Bidens und der Demokraten entstehen, sondern auch Vertrauen in die demokratischen Institutionen selbst zurückgewonnen werden. Die chaotische Lage in Afghanistan und die Hilflosigkeit der angeblich mächtigsten Macht der Welt gegenüber den Taliban stellt dies nun zur Disposition. Trotz der enormen Anstrengungen des U.S.-Militärs und des State Departments in diesen Wochen, wirkt die Regierung insgesamt in ihrer ersten ernsthaften Krise getrieben und scheint weder solide vorbereitet noch gut informiert.

Beispielhaft dafür steht die Rolle der Nachrichtendienste. Das öffentliche Ansehen dieser hatte nach dem 11. September und nach ihren Fehlinformationen vor dem Irak-Krieg stark gelitten. Donald Trump zog ihre Zuverlässigkeit dann jahrelang öffentlich weiter infrage. Unter Biden sollte eine Kehrtwende her, sollte die Kompetenz der Dienste wieder etwas gelten. Aber die offensichtlich grobe Fehleinschätzung oder politische Fehlauswertung der Lage in Afghanistan stellt ihr Ansehen nun erneut infrage.

Bemerkenswert ist auch die Empfindlichkeit der Regierung angesichts der kritischen Medienbegleitung in diesen Wochen. Da werden Dinge schöngeredet oder schmallippig zurückgewiesen, da widerspricht das eine Ministerium dem anderen. Biden selbst vermeidet währenddessen weitgehend Frage- und Antwortrunden mit der Presse. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die Medien hätten sie bitte wohlwollend zu behandeln, weil sie erstens nicht die Trump-Regierung seien und zweitens von hehren Motiven geleitet wären. Aufrichtig, offen und kompetent wirkt das nicht.

Härte und Interessen statt Empathie und Demokratie

Biden hatte sich den US-Bürger*innen im Wahlkampf auch menschlich als Gegenpol zu Donald Trump präsentiert. Und zwar vor allem als empathischer Mensch, als fürsorgliche Führungsfigur nach Jahren der Politik egomanischer Missgunst. Das war ein wichtiges Kriterium seines Erfolgs. In Washington ist er dafür bekannt, als Kümmerer, als Umarmer und Tröster. Beispielhaft dafür war das Gedenken an die Verstorbenen der COVID-Pandemie in der Frühphase seiner Amtszeit.

Umso größer der Kontrast und die Härte, mit der Biden seine Afghanistan-Entscheidung nun begründet und verteidigt. Er wirkt dünnhäutig und relativ unberührt von den menschlichen Tragödien, die sich in Afghanistan abspielen. Die Kluft zwischen dem von Biden gepflegten öffentlichen Image als mitfühlender Mitbürger und seinen unterkühlten präsidialen Auftritten während die furchtbaren Bilder aus Afghanistan über den Bildschirm flackern, ist gewaltig.

Die Afghanistan-Politik konterkariert zudem die zentrale wertegebundene Botschaft Bidens, dass es bei seiner Präsidentschaft um nichts Weniger als die Bewahrung und Verteidigung der Demokratie geht, in den USA und weltweit. Mit großem Pathos wurde für Dezember diesen Jahres ein globaler Demokratiegipfel angekündigt.

Das wirkt nunmehr zynisch angesichts der Tatsache, dass Biden mit Blick auf Afghanistan dem „Nation Building“, der breiten Unterstützung von Demokratisierungsprozessen in anderen Ländern eine Absage erteilt hat. Und auch das verbale Eintreten der neuen US-Regierung für Menschenrechte weltweit hat einen schalen Beigeschmack angesichts dessen, dass nun in Afghanistan Menschenrechtsverteidiger*innen ihrem Schicksal überlassen werden. Viele mutige Verteidiger*innen von Freiheit und Menschenrechten weltweit werden sich künftig zweimal überlegen, ob sie Ihre Sicherheit an Versprechen der USA binden wollen.

Internationaler Scherbenhaufen statt verlässliche Allianzpolitik

“Die USA sind zurück” hatte Biden wiederholt verkündet. Er adressierte damit vor allem die Verbündeten der USA, allen voran die Europäer. Und er meinte die Rückkehr zu einer Verlässlichkeit der USA in internationalen Gremien und Verhandlungen. In der Tat unternahm er schon in den ersten Monaten wichtige Schritte, um den globalen Führungs- und Gestaltungsanspruch der USA wiederherzustellen. Er trat dem Pariser Klimaabkommen erneut bei, er nahm die Verhandlungen zum iranischen Atomprogramm wieder auf, er reiste nach Europa und setzte sich für mehr globale Gerechtigkeit im Rahmen der G7 ein.

Die Entscheidung zum Abzug des US-Militärs aus Afghanistan war dazu ein harter Kontrast. Sie wurde unilateral in Washington getroffen, mit den Alliierten gab es kaum mehr als Pseudo-Beratungen. Und das angesichts der Tatsache, dass es hier um einen gemeinsamen militärischen Einsatz ging, mit umfassenden Folgen für alle Partnerländer und deren lokale Verbündete in Afghanistan.

Ganz zu schweigen von den Menschen, die für die USA tätig waren in Afghanistan und im Washingtoner Sprachgebrauch „Afghan Allies“, afghanische Alliierte, genannt werden. Ihnen wurde von der Biden-Regierung ein sicherer Hafen in den USA zugesichert. Aber die notwendigen Schritte wurden nicht rechtzeitig eingeleitet, um umfassend zu diesem Wort stehen zu können. So bleiben nun viele „Afghan Allies“ in Afghanistan zurück. Und zurück bleiben Fragen bei Verbündeten der USA weltweit zu deren künftiger Verlässlichkeit. Das Ansehen der USA in der Welt, das Joe Biden nach eigenem Bekunden wiederherstellen wollte, hat nun erstmal einen weiteren Rückschlag erlitten.  

Viele ziehen jetzt Parallelen zu der Entscheidung Barack Obamas, den Giftgaseinsatz des syrischen Regimes trotz vorheriger Proklamation einer roten Linie folgenlos gelassen zu haben. Die Konsequenz waren weitere Jahre unbeschreiblichen Leids in Syrien, eine wachsende Destabilisierung der Region und ein geostrategischer Geländegewinn für die Konkurrenzmacht Russland. Die Afghanistan-Politik Joe Bidens dürfte zu einem vergleichbar düsteren Kapitel seiner Präsidentschaft werden. Denn sie symbolisiert eine moralische und politische Niederlage des Westens.