Der Klimanotstand hat in der EU oberste politische Priorität und erfordert ein grundlegendes Umdenken in unserem Wirtschaftssystem. Die Rolle von sozialem Dialog und Tarifverhandlungen wird aber nach wie vor unterschätzt. Das muss sich ändern.
Angesichts der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Ziele für 2040, die Treibhausgasemissionen bis 2040 um 90 Prozent zu reduzieren (ausgehend vom Niveau des Jahres 1990), ist es klar, dass wir beim Tempo einen Zahn zulegen müssen. Die EU hat in den drei Jahrzehnten bis 2020 eine Treibhausgasreduzierung von 30 Prozent erreicht, und sollte dementsprechend in den zwei Jahrzehnten zwischen 2020 und 2040 auf weitere 60 Prozent kommen – das ist doppelt so viel Einsparung in einem um ein Drittel kleineren Zeitfenster.
Dramatische Änderung von Berufsbildern und Geschäftsmodellen
Die Transformation wird die Arbeitswelt sowohl qualitativ als auch quantitativ umgestalten. Die Regionen und Sektoren sind auf unterschiedliche Weise betroffen, ganze Wertschöpfungsketten werden aufgemischt und neu organisiert, und Berufsbilder und Qualifikationsanforderungen ändern sich dramatisch. Dieser grundlegende Strukturwandel in der Wirtschaft ist in erster Linie ein über politische Maßnahmen angetriebener Prozess, der mit dem technologischen Fortschritt, der Digitalisierung und den sich vervielfältigenden Anwendungsbereichen künstlicher Intelligenz verflochten ist und in den außerdem Geschäfts- und Gewinninteressen hineinspielen.
Einen Strukturwandel erlebt unser Wirtschaftsmodell nicht zum ersten Mal. Und doch unterscheidet sich die gegenwärtige zu früheren Umwälzungen, z. B. in den frühen Phasen der Globalisierung: Sie wird nicht, wie damals, von einer Gewinnmaximierung angetrieben, die Sozial- und Umweltstandards untergräbt und dadurch zwangsläufig Widerstand hervorruft, sondern strebt das Ziel einer Netto-Null-Wirtschaft an, die vielmehr darauf ausgerichtet ist, die gesellschaftlichen und natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten.
Zur Ausgestaltung des unumgänglichen Strukturwandels haben die Gewerkschaften das Konzept des gerechten Übergangs entwickelt. Dabei geht es im Wesentlichen darum, bei der Bekämpfung des Klimawandels die soziale Gerechtigkeit im Blick zu behalten und die Lasten gerecht auf alle Schultern zu verteilen. Oberstes Gebot ist hierbei, in der grünen Transformation keine neuen Ungleichheiten zu schaffen, sondern vielmehr bereits bestehende zu hinterfragen. Unter zwei Aspekten lässt sich der gerechte Übergang in den Blick nehmen: hinsichtlich „Ergebnis“ und „Prozess“. Als Ergebnis sollten am Ende gute und grüne Arbeitsplätze mit verringerter Ungleichheit geschaffen sein, während der „Prozess“-Aspekt die praktische Umsetzung betrifft, d. h. wie die Transformation möglichst gerecht vonstatten geht.
Dieser Prozess besteht (grob gesagt) aus zwei Dimensionen: aus der Frage, wie die Verteilungsprobleme der Klimapolitik ausbalanciert werden können, und aus der Herausforderung, wie industrielle und beschäftigungspolitische Übergänge zu bewältigen sind. Hierbei sind die Gewerkschaften besonders wichtige Akteure, da sie in der breiten Gesellschaft verankert sind und außerdem über reiche Erfahrung mit Strukturwandelprozessen verfügen.
Sind Gewerkschaften immer skeptisch?
Den Gewerkschaften wurde in der Vergangenheit oft eine Skepsis gegenüber der Umwelt- und Klimapolitik nachgesagt sowie ein Interesse am Aufrechterhalten des Status quo. Dies trifft jedoch nicht mehr zwangsläufig zu, da die Gewerkschaften die Grenzen der Ressourcenausbeutung erkannt haben und daraufhin das Konzept des gerechten Übergangs schufen, um das potenzielle Dilemma „Jobs versus Umwelt“ zu überwinden. Dennoch besteht weiterhin ein Spannungsverhältnis zwischen des Austarierens der Folgen, die eine wirtschaftliche Wende nach sich zieht, und der Ausarbeitung einer Transformationsagenda, die eben diese Wende beschleunigen soll.
In der Praxis kann sich dieses Spannungsverhältnis sowohl in gewerkschaftlichen Entscheidungen auf höherer Ebene wie auf der Ebene einzelner Unternehmen niederschlagen. Auf nationaler und supranationaler Ebene stehen die Gewerkschaften hinter dem Konzept des gerechten Übergangs, mit dem sie die grüne Transformation mitgestalten wollen. Die Gewerkschaften vor Ort – auf lokaler, regionaler, sektoraler oder sogar betrieblicher Ebene – sind jedoch mit den Auswirkungen auf die Löhne, die Arbeitsbedingungen und die Tarifverhandlungen konfrontiert und konzentrieren sich eher auf die unmittelbaren Folgen der Transformation. Obwohl die Bekämpfung des Klimawandels ein Ziel ist, auf das sich alle Akteure einigen können, liegt es weder bei den Arbeitgebern noch bei den Gewerkschaften vor Ort im unmittelbaren Eigeninteresse, sich ehrgeizige klimapolitische Ziele zu setzen, zumindest nicht auf kurze Sicht. Die Ambitionen und Ziele, die die Transformation vorantreiben, werden auf höheren politischen Ebenen in Form des Pariser Abkommens, des europäischen Klimagesetzes und der nationalen Dekarbonisierungsziele festgelegt. Für Ausgleichsangebote zu sorgen bedeutet jedoch, den Transformationsprozess konkret vor Ort zu gestalten. Bis zu einem gewissen Grad konnte der soziale Dialog dazu beitragen, Energie- und Klimapläne auf nationaler Ebene zu gestalten oder staatliche Konjunktur- und Resilienzpläne auszuarbeiten, doch diese Gespräche finden bisweilen mit gewissem Abstand zu Fabrikhallen statt und konzentrieren sich oft nur auf die Ergebnisse. Um Verfahrensgerechtigkeit, Arbeitnehmer*innenbeteiligung, Sozialdialog und Tarifverhandlungen zu gewährleisten, müssen diese gestärkt und für die neuen Herausforderungen des Übergangs gerüstet werden.
Tarifverträge als Mittel gegen den Klimawandel
Wie verhält sich die Notwendigkeit, die Sozialpartner in den Umgang mit dem Klimawandel und in die Gestaltung der grünen Transformation einzubeziehen, zu den althergebrachten Arten von Tarifverträgen? In Europa existieren Tarifverträge in ganz unterschiedlichen Formen, verschieden je nach Ebene, Sektor und Aspekt, und das macht ein einheitliches Verständnis von „grünen Tarifverhandlungen“ schwierig. Ein Artikel des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA, SOC/747) versteht unter grünen Tarifverhandlungen eben jene bei den Sozialpartnern zur Verhandlung stehenden Klauseln, die direkte oder indirekte Auswirkungen auf die Umwelt haben. Dementsprechend können grüne Tarifverträge Folgendes abdecken: a) die Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit auf die Umwelt, b) den Schutz der Arbeitnehmer*innen vor den Folgen des Klimawandels und c) die Auswirkungen der grünen Transformation auf Beschäftigung und Arbeitsorganisation. Vereinfacht ausgedrückt lassen sich zwei Hauptformen von grünen Tarifverträgen unterscheiden: grüne Klauseln in Verträgen und Vereinbarungen bezüglich des grünen Strukturwandels.
Grüne Klauseln
Auch klassische Tarifverträge befassen sich nicht nur mit Lohn und Arbeitszeit, sondern auch mit qualitativen Elementen wie Arbeitsbedingungen, Kompetenzentwicklung, Gesundheit und Arbeitsschutz oder neuerdings auch das Home-Office. Einige klassische Tarifverträge enthalten inzwischen auch Klauseln zu einer ökologischen Gestaltung des Arbeitsplatzes, was Maßnahmen zur Energieeffizienz, zur Abfallentsorgung und zum Arbeitsweg umfasst. Spanien schlägt derzeit vor, ökologische Fragen grundsätzlich in Tarifverträgen von Unternehmen zu verankern. Ein Gesetzesentwurf über nachhaltige Mobilität soll Unternehmen dazu verpflichten, Maßnahmen zur Förderung von kohlenstofffreien Mobilitätsoptionen als obligatorische Themen für Unternehmensverhandlungen in ihre Pläne aufzunehmen. Frankreich hat bereits ein Paket zur nachhaltigen Mobilität eingeführt, in dem ökologische Fragen seit 2021 Teil des obligatorischen Informations- und Konsultationsprozesses sind.
Die Förderung solcher Vereinbarungen trägt dazu bei, abstrakte Ziele in konkrete Maßnahmen umzusetzen und zugleich den Arbeiter*innen das Heft in die Hand zu geben. Andere Rechtsinstrumente wie die Leitlinien für Umweltmanagementsysteme, die Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen oder die EU-Standards für Nachhaltigkeitsberichte bieten vielleicht noch weitere Möglichkeiten für die Beteiligung von Arbeitnehmer*innen.
Die Rolle von Vereinbarungen in der Ausgestaltung des grünen Strukturwandels
Neben der Einführung von Klauseln zugunsten des Umweltschutzes ist allein schon die aktive Beteiligung von Arbeitnehmer*innen am grünen Strukturwandel von entscheidender Bedeutung. Umstrukturierung sind immer konfliktreiche Prozesse, bei denen Wertschöpfungsketten neu aufgebaut, und Tätigkeiten ausgelagert oder verlagert werden, und in der Folge massive Arbeitsplatzveränderungen, neue Qualifikationsanforderungen und entsprechende Schulungsprogramme entstehen. Einige Vereinbarungen aus der Vergangenheit machen bereits vor, wie die Beteiligung von Arbeitnehmer*innen potentiell dazu beiträgt, diesen Prozess gerecht und effizient zu gestalten.
So gab es zum Beispiel in den frühen 2000er Jahren eine Vereinbarung zwischen der IG Bergbau, Chemie, Energie und der Ruhr Kohle AG, die einen Sozialplan für den Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet sicherstellte. In Italien schlossen vier italienische Gewerkschaften mit dem Energiekonzern Enel eine Rahmenvereinbarung in Bezug auf dessen Plan 2030, der mehrere Werksschließungen vorsieht, und dies leistete einen großen Beitrag zur Dekarbonisierung des italienischen Energiesektors. In Schweden wurde mit der sektorübergreifenden Vereinbarung 2022 ein breit angelegter Rahmen zur Vereinfachung und zum Management der grünen Transformation geschaffen. Diese Vereinbarungen konzentrieren sich keineswegs nur auf den Beschäftigungsschutz und den Erhalt von Arbeitsplätzen, sondern sie unterstreichen auch die Qualifikationssteigerung zur Verbesserung der Arbeitsplatzsicherheit und der Wettbewerbsfähigkeit. Zwar erfüllen diese Vereinbarungen die Kriterien eines „Tarifvertrags“, sie behandeln aber in der Regel die Dinge auf lange Sicht und erstrecken sich über einen Zeitraum von bis zu 10 Jahren.
In letzter Zeit lässt sich beobachten, dass die Zahl von sogenannten „Zukunftstarifverträgen“ zunimmt, und zwar vor allem bei Autoherstellern, angefangen mit dem „Zukunftspakt“ 2016 bei Volkswagen, gefolgt von anderen großen Herstellern und ihren Zulieferern (z. B. Bosch im Juli 2023 und Mahle im August 2023). Zu den wichtigsten Zielen dieser von den Betriebsräten ausgehandelten und von der IG Metall unterstützten klassischen Tarifverträgen auf Werksebene gehören eine strategische Vision für jedes Werk, die Sicherung der Beschäftigung im Rahmen der Umstellung auf die E-Mobilität, sowie die Einbeziehung in das Qualifikationsmanagement, durch das künftig benötigte Fähigkeiten mit entsprechenden Trainings- und Umschulungsprogrammen ermittelt werden.
In Frankreich kommt es bei Vereinbarungen zum Arbeitsplatzerhalt, wie die von Renault aus dem Jahr 2021, zu Zugeständnissen vonseiten der Gewerkschaften, wenn im Gegenzug in der Fertigung und im Recruiting in den Übergang zu Elektrofahrzeugen investiert wird. Im Jahr 2017 führte Frankreich in seinem Arbeitsrecht die sogenannten Ruptures Conventionelles Collectives (RCC) ein, die ein freiwilliges Ausscheiden fördern. Der Autokonzern Stellantis hat eine erste RCC für Februar 2022 ausgehandelt, um Konzernmitarbeiter*innen für ein Schulungsprogramm in die ACC-Batterie-Gigafactory in Douvrin zu versetzen, um deren Beschäftigungsfähigkeit zu fördern und ihre Kaufkraft zu erhalten. Auch wenn diese Vereinbarungen bisweilen noch umstritten sind, können sie doch dazu beitragen, den unumgänglichen, aber konfliktreichen industriellen Strukturwandel in Europa zu bewältigen. Sie werden jedoch häufig nicht als Tarifverträge anerkannt und so mangelt es ihnen an Durchsetzungskraft.
Obzwar die oben genannten Vereinbarungen zweifellos als Tarifverträge zu werten sind, wird ihnen dieser Status nicht immer zugesprochen, und so bleibt ihre Durchsetzbarkeit fraglich. Doch befassen sie sich mit den wichtigsten Aspekten des grünen Strukturwandels und sollten daher integraler Bestandteil der Verhandlungen in der Industrie werden.
Empfehlungen für die kommende EU-Legislaturperiode
Grundsatz 8 der Europäischen Säule sozialer Rechte unterstreicht die Notwendigkeit, den sozialen Dialog und die Beteiligung der Arbeitnehmer*innen an der Sozial-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu fördern, und ermutigt zu Tarifverhandlungen. Angesichts der historischen Herausforderungen eines gerechten Übergangs sind Wissen und Erfahrungsschatz der Sozialpartner unverzichtbar für die Ausarbeitung von Übergangsplänen, die in Ergebnis und Prozess gerecht sind. Tarifverhandlungen sollten deshalb nicht nur gestärkt werden, sondern auch im Lichte der neuen Herausforderungen betrachtet werden. Folgendes sollte die EU in der nächsten Wahlperiode priorisieren:
- Entwicklung eines rechtlichen Rahmens für den gerechten Übergang auf europäischer Ebene, der die wichtige Rolle grüner Tarifverhandlungen anerkennt, um ihr transformatives Potenzial freizusetzen.
- Achtung des Rechts auf Tarifverhandlungen mit den Vorrechten der Gewerkschaften als Verhandlungspartei der Arbeitnehmer*innen, wie in der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU anerkannt.
- Unterstützung von Mitgliedstaaten, die noch nicht über einen soliden Rahmen für einen sozialen Dialog verfügen, mittels spezifischer Empfehlungen und Initiativen.
- Stärkung der Rahmenbedingungen für die Informationsbereitstellung und Anhörung der Arbeitnehmer*innen, wie von der spanischen EU-Präsidentschaft 2023 vorgeschlagen.
- Ermächtigung der Sozialpartner zur Mitgestaltung der wirtschaftlichen Zukunft Europas.
Dieser Artikel erschien zuerst hier in Englisch: https://eu.boell.org/en/2024/04/16/trade-unions-collective-bargaining-g…