Wie verändert sich künstlerisches Schaffen durch einen akuten Kriegszustand? Wie verändert sich die eigene Perspektive auf das, was relevant ist? Und welche Anforderungen ergeben sich daraus an kritische Kunst? Über diese Fragen sprach Halyna Hartwig (Kunsthalle Kulturzentrum Faust) mit Alona Karavai (Kuratorin Asortymentna Kimnata und Initiatorin der Agentur für non-formale Bildungsveranstaltungen Proto Produkciia) und Nikita Kadan (ukrainischer bildender Künstler) am Freitag, den 15. September im FZH Vahrenwald. Mit im Gepäck hatten die beiden Gäste Kunstwerke zeitgenössischer ukrainischer Künstler*innen, die vorgestellt und vor Ort betrachtet werden konnten.
Eindrücklich schilderte Alona Karavai wie sich mit dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 plötzlich die Notwendigkeiten für die Arbeitsvoraussetzungen für Künstler*innen änderten. Kurzfristig schuf sie aus einem Privathaus in den Kaparten eine Künstler*innenresidenz, die zunächst vor allem als Zufluchtsstätte diente. Die Künstler*innen vor Ort waren vornehmlich mit der Alltagsbewältigung in der Kriegssituation beschäftigt, bevor sich der Krieg auch in ihren künstlerischen Praxen zu manifestieren begann. Ein Beispiel für den künstlerischen Umgang mit dem Alltagserleben im Krieg ist die Arbeit „Palyanysia“ von Zhanna Kadyrova, die bereits im Februar im Kunstverein Hannover zu sehen war. Das Wort „Palyanysia“ beschreibt ukrainisches Weißbrot. Die Aussprache bildet jedoch eine spezifische Differenzierung zwischen der ukrainischen und russischen Sprache ab, so dass russische Muttersprachler*innen die Bezeichnung nicht ohne Übung akzentfrei aussprechen können. Ein Umstand, der vor dem Krieg banal, mit dem Krieg plötzlich zu kultureller Zuordnung und Separation führte und vielleicht sogar eine Erkennung feindlicher Gesinnung ermöglichte. Diese neue Bedeutung einer Alltagsbezeichnung für ein Brot greift Zhanna Kadyrova auf, wenn sie große Flusssteine poliert und diese in Scheiben aufschneidet, so dass sie wie Brotlaibe aussehen.
Nikita Kadan, dessen Werk auf der Ankündigung der Veranstaltung zu sehen ist, beschrieb die radikale Zuspitzung der Position als Künstler im Krieg zunächst Sprachrohr einer bekriegten Bevölkerung zu sein. Besonders deutlich wurde die Veränderung einer kritischen künstlerischen Haltung durch einen Kriegszustand: So teilte Nikita Kadan die Beobachtung, wie viele seiner progressiv, antipatriarchal, queer, links und liberal eingestellten Kolleg*innen aus der Situation heraus, nun patriotisch rezipiert würden, weil sich durch die veränderte Situation gewohnte Perspektiven verschöben. Diese würden nun neu angeordnet und sortiert. Entsprechend könne er nicht an vermeintlich neutralen friedensorientierten Austauschangeboten mit russischen Künstler*innen teilnehmen. Für diese bräuchte es zunächst eine deutliche Distanzierung der russischen Künstler*innen vom russischen Regime, anderenfalls sei immer das Ungleichgewicht zwischen Überfallenem und Überfallendem mit am Tisch. Mit Blick auf die Position, Gefährdung und Bedeutung russischer dissidenter Künstler*innen erinnerte Kadan hier an die Flucht vieler deutscher Künstler*innen und Intellektuellen vor dem nationalsozialistischen Deutschland in die Nachbarstaaten und deren dortige Aufnahme. Er verwies dabei auf die relevante Funktion Deutschlands, kritischen russischen Künstler*innen Zuflucht zu gewähren.
Der Austausch in dieser Runde schloss mit dem Aufruf, auch in Deutschland miteinander die Diskussion zu suchen. Es gehe darum, die aktuelle Situation in der Ukraine und die harte Arbeit der Ukrainer*innen für eine liberale und demokratische Gesellschaft anzuerkennen. Vor allem aber bleibt die aktuell häufig gemachte Feststellung, dass große Krisen alle vermeintlichen Sicherheiten zur Disposition stellen. Vor dieser Herausforderung ist niemand gefeit ist.