Özgürcan Baş ist in einem Stadtteil aufgewachsen, in dem 30 Prozent der jungen Menschen von Armut betroffen sind. Dagegen möchte er etwas tun. Der 24-jährige gelernte Bankkaufmann sitzt seit diesem Jahr als direkt gewähltes Mitglied für die SPD in der Kieler Ratsversammlung. Im Interview spricht er über soziale Gerechtigkeit und die Frage, warum einkommensschwache Menschen selten in der Politik vertreten sind.
Andrea Schöne: Ihre politische Arbeit hat schon als Schülersprecher, Landesschülersprecher und im Kinder- und Jugendbeirat Kiel angefangen. Was sind die entscheidenden Grundlagen für Ihre politische Arbeit und Fähigkeiten, die Sie dabei gelernt haben?
Özgürcan Baş: Für mich war das alles fremd. Meine Eltern sprechen nicht fließend Deutsch. Beide sind sehr interessiert, was die politische Situation in der Türkei anbetrifft, die ja nun mal sehr angespannt ist. Das war immer mal wieder Thema zu Hause. Meine Mutter weiß aber gar nicht so genau, was ich eigentlich mache oder was für ein Amt ich zurzeit bekleide. So war das damals auch schon. Somit war das für mich die Möglichkeit zu lernen, wie Gremien eigentlich funktionieren. Ich hatte in der Schülervertretung nie den Gedanken das auch zu machen, weil meine Eltern das auch schon gemacht haben oder ich besonders politisiert war, sondern weil ich neugierig war und gesehen habe, was andere Schülervertretungen auf die Beine gestellt haben.
Haben Ihre Ehrenämter während der Schulzeit dazu beigetragen, die Schwerpunkte für Ihre politische Arbeit als Kommunalpolitiker zu schärfen?
Das politische Profil hat sich mit der Zeit entwickelt. Im Kinder- und Jugendbeirat haben wir viele verschiedene Themen aus jugendpolitischer Sicht angestoßen. Beispielsweise Nachtbusse, wo es viel um Angsträume in der Stadt ging, wo man sich dann auch in meinen Stadtteilen vernachlässigt gefühlt hat. Ich bin in einem Stadtteil aufgewachsen, wo 30 Prozent der jungen Menschen von Armut betroffen sind, und ich habe das Bedürfnis, etwas dagegen zu tun. Bevor ich in meine eigene Wohnung gezogen bin, habe ich 22 Jahre lang mit meiner Familie in einer zweieinhalb Zimmerwohnung gewohnt. Bis ich zweiundzwanzig Jahre alt war, habe ich mir in einem Hochbett mit meinem Bruder ein Zimmer geteilt, obwohl ich gleichzeitig in einem so politischen Umfeld während meiner Schulzeit unterwegs war. Das hat sich angefühlt wie ein Doppelleben.
Welchen Themen möchten Sie sich als Kommunalpolitiker besonders widmen?
Für mich ist vor allem das Thema soziale Gerechtigkeit entscheidend. Das Thema hat mich stets bewegt und ist auch ein urtypisches SPD-Thema. Themen wie Armut und Teilhabe in jeglicher Form. Ich möchte mich für mein persönliches Umfeld, für die Menschen hier im Stadtteil stark machen.
Ich habe die ideelle Vorstellung, dass ich auf kommunaler Ebene etwas bewegen und den Menschen vor Ort etwas geben kann, wovon sie einen Mehrwert von haben. Beispielsweise kostenfreier Schwimmhallenbesuch oder ein kostenloses Mittagessen in der Schule.
Sie sind ein junger Mensch, mit Migrationsgeschichte und Nicht-Akademiker. Welche Rolle spielt das bei Ihrer Art Politik zu machen?
Inzwischen kenne ich sehr gut die Spielregeln, wie Politik funktionieren soll, möchte sie aber bewusst anders auslegen. Ich möchte Politik für junge Menschen machen, als junger Mensch. Denn wenn man sich die Stadtteilgremien anschaut, dann sind sie nun mal sehr überaltert. Von solchen Gremien fühle ich mich teilweise auch nicht repräsentiert. Wir müssen die Gesellschaft in solchen Gremien so divers abbilden können, wie sie ist.
Auf das Thema Migrationshintergrund stoße ich vor allem immer wieder durch meinen Namen. Beispielsweise während der konstituierenden Sitzung, als ich in das Kommunalparlament in Kiel gewählt worden bin. Wir wurden alle namentlich aufgerufen und mit Handschlag in unser Amt eingeführt. Das war einer der emotionalsten Momente meines Lebens und dann spricht die frisch gewählte Staatspräsidentin meinen Namen falsch aus. Das hat mich sehr frustriert, weil es nicht kompliziert gewesen wäre sich vor der Sitzung über die Aussprache zu informieren. Es sind zwar immer mehr Menschen mit diversen Hintergründen in solchen Gremien vertreten, aber noch lange nicht genug.
Benachteiligte Menschen, insbesondere Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und Einkommen, sind in allen politischen Gremien unterrepräsentiert. Woran liegt aus Ihrer Sicht diese fehlende Repräsentation und wie ließe sich das ändern?
Die Leute sind ganz erstaunt, wenn ich ihnen erzähle, was ich als Aufwandsentschädigung in der Kommunalpolitik erhalte und davon dann nochmal 30 Prozent der Aufwandsentschädigung an die Partei abgebe. Somit bekomme ich für ungefähr 15 bis 20 Wochenstunden, die ich mit dem politischen Ehrenamt beschäftigt bin, abgezogen nach den Parteiabgaben circa 300 Euro im Monat. Dann darf man sich auch nicht wundern, dass gerade in Kommunalgremien keine Menschen vertreten sind, die wenig Geld haben.
Die Politik beschäftigt sich außerdem zu wenig mit den Themen, die Menschen aus diesen Bevölkerungsgruppen betreffen. Ich versuche dann aus meiner Perspektive und Wahrnehmung, mich für diese Menschen einzusetzen. Einkommensschwache Familien haben so viele Probleme im Alltag und Schwierigkeiten, überhaupt über die Runden zu kommen. Da kommen sie nicht auf die Idee, ein politisches Ehrenamt auszuüben und das System umzukrempeln, damit es für sie besser läuft. Ich glaube, man guckt eher, dass man überhaupt über die Runden kommt. Das ist das Schwierige an dieser Gesamtkonstellation, egal auf welcher politischen Ebene.
Bietet dann vielleicht aber gerade die Kommunalpolitik eine Chance, Menschen aus benachteiligten Bevölkerungsschichten oder junge Menschen in die Politik zu bringen?
In der Kommunalpolitik sind die Auswirkungen von politischen Beschlüssen, die man fällt, viel greifbarer. So bin auch ich durch den Kinder- und Jugendbeirat in die Kommunalpolitik reingestolpert. Der Kinder- und Jugendbeirat ist ein örtliches Gremium und da haben wir während der Sitzungen teilweise fünf bis sechs Anträge gestellt, die dann in die Fachausschüsse weitergegeben wurden. Die Politiker*innen waren maßlos überfordert, was mit diesen Anträgen passieren soll, weil das so viele auf einmal waren und zu den unterschiedlichsten Themen. Im Schulunterricht bräuchten wir einen viel größeren Fokus auf Kommunalpolitik statt auf Bundes- oder Europapolitik und wie deren Gremien zusammenarbeiten. Während meines Wirtschafts- und Politikunterrichts war ich 16 Jahre alt und konnte noch gar nicht für die Bundestagswahl abstimmen. In der Kommunalpolitik dagegen schon.
Dienen Kommunalpolitiker*innen für die eigene Community auch als Vorbilder?
Bezug spielt hier schon eine große Rolle. Aus der Zeit meiner ersten Legislatur gibt es zwei Personen, die auch der SPD beigetreten sind. Man muss die Leute in ihrem natürlichen Habitat abholen. Beispielsweise in Jugendtreffs, die wir hier in Kiel haben, müsste auch mehr auf die Wahl aufmerksam gemacht werden und die Möglichkeiten, sich selbst aufzustellen.
Besteht aber gleichzeitig auch die Gefahr in der politischen Arbeit, dass die eigenen Hintergründe zu stark in den Vordergrund gestellt werden?
Ich fühle mich sehr wohl, über solche Themen zu sprechen, weil ich es einfach enorm wichtig finde und bin durch den Kinder- und Jugendbeirat in die Politik reingewachsen. Deshalb will ich mich auch für Jugendpolitik einsetzen. In der Gesamtfraktion muss man aber schauen, welche Fachbereiche zueinander passen. Ich habe mich dann für Sport entschieden und bin in dem Bereich auch Fachsprecher geworden. Es war für mich erstmal völlig neu sich in die Sportpolitik hineinzuversetzen und sich nur auf die sportlichen Aspekte zu beziehen. Aber auch im sportpolitischen Bereich geht es viel um Teilhabe, was natürlich für mich ein sehr sensibles Thema ist.
Erleben Sie auch Anfeindungen?
Während des Kommunalwahlkampfs habe ich mich bei einer Aktion mit meinen Wahlplakaten vor einen Supermarkt in meinem Wahlbezirk gestellt und zahlreiche Flyer verteilt, wo meine Telefonnummer draufstand. Abends habe ich einen Anruf mit einer anonymisierten Nummer bekommen Die Person hat mir eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen, in der sie mich beleidigt und bedroht hat. Ich weiß nicht, wer angerufen hat. Aber ich habe angefangen mir um meine Sicherheit Gedanken zu machen und wie ich damit im Wahlkampf umgehen soll.
Gerade Menschen aus benachteiligten Personengruppen, die in der Öffentlichkeit stehen, sind von Hate Speech besonders betroffen. Sind Sie in Netzwerken aktiv, an die Sie sich in solchen Fällen wenden können?
Ich bin in keinem Netzwerk, wo ich offen darüber spreche. Ich nutze aber viele parteipolitische Gruppen, um Unterstützung zu bekommen. Eigentlich müsste man sich über solche Themen viel mehr, auch parteiübergreifend, austauschen.
Was für einen Rat haben Sie an junge Menschen, die sich kommunalpolitisch engagieren wollen?
Mir hat immer sehr geholfen mir zu überlegen, was mich in meinem Alltag selbst beschäftigt. Sollten jemandem wegen Diskriminierungserfahrungen Steine in den Weg gelegt werden, ist es enorm wichtig mit anderen Menschen darüber zu sprechen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: heimatkunde.boell.de