Der Anne-Klein-Preis 2021 geht an Cânân Arın aus der Türkei. Barbara Unmüßig, Vorsitzende der Jury, würdigt in ihrer Rede die ungeheure Lebensleistung der Preisträgerin im Kampf für mehr Freiheiten und Frauenrechte in der Türkei.
Erneut ein herzliches Willkommen zur Preisverleihung. Besonders begrüßen möchte ich den Bruder unserer Preisträgerin, den Berliner Architekten und Stadtplaner Dr. Cihan Arın und seine Frau Olga. Wunderbar, dass Sie beide Cânân an diesem Ehrentag begleiten und sie hier in Berlin vertreten.
Die Folgen der Corona-Pandemie treffen Frauen überall auf der Welt ökonomisch und persönlich besonders hart. Frauen verlieren ihre Jobs noch schneller als Männer und sie erleben verstärkt häusliche Gewalt.
Liebe Cânân Arın,
der Kampf gegen jegliche Gewalt gegen Frauen ist ein Lebensthema für dich.
Mor Çatı war 1990 die erste Frauenhausstiftung in der Türkei, du hast sie mitgegründet. Seit Jahrzehnten ist sie nun die erste Anlaufstelle für Tausende von Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt geworden sind.
Die Rechte und Selbstbestimmung von Frauen zu stärken und gesetzlich abzusichern, zieht sich wie ein roter Faden durch dein politisches und persönliches Engagement. Du unterstützt Frauen bei ihren Kandidaturen für politische Positionen. Du adressierst deine frauenpolitischen Anliegen auf allen Ebenen – national sowieso, im Europarat oder bei UN-Weltfrauenkonferenzen in Peking oder New York. Den rechtstaatlichen Wegen widmest du gerade als Anwältin besondere Aufmerksamkeit. Rechte müssen immer einklagbar sein. Das Zentrum für Frauenförderung der Istanbuler Anwaltskammer hast du mitgegründet.
Liebe Cânân, du blickst auf sehr viele Jahre des Kampfes für Frauenrechte zurück. Auf Fortschritte und herbe Rückschläge, auf Repression aber auch Ermutigung wie in den 2000er Jahren und zwar über die verschiedensten Regierungen der letzten Jahrzehnte hinweg.
Die gegenwärtige autoritäre Politik der türkischen Regierung und die Dominanz islamistisch-nationalistischer Kreise haben in den letzten Jahren allerdings eine Atmosphäre geschaffen, in der es schwieriger und auch gefährlicher geworden ist, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren. Und wie so oft sind Frauen und LGBTI* das erste Ziel von Anfeindungen und Repression.
Die türkische Regierung beharrt darauf, dass Gleichstellung der Geschlechter ein Irrweg ist, der Präsident versucht seinen Wählerinnen und Wählern immer wieder einzureden, dass Feminismus Teil eines westlichen Kulturkampfes sei, in dem die Türkei ihre eigenen, islamisch geprägten Traditionen verteidigen würde. Gleiche Rechte auf dem Papier ja, aber Frauen sollen gefälligst eine traditionelle Rolle als Mutter annehmen. Wie stark dies immer noch die Realität im Land widerspiegelt, sieht man schon an den Statistiken.
Obwohl in der Türkei eigentlich universelle Schulpflicht gilt, sind immer noch gut 12% weniger Frauen an einer weiterführenden Schule als Männer. Obwohl viele Frauen davon den Sprung an die Universitäten schaffen, sind fast 70% der weiblichen Bevölkerung nach der Heirat nicht mehr am Arbeitsmarkt vertreten. In einem Land mit einer ohnehin hohen verdeckten Arbeitslosenrate, sind Frauen immer noch fast anderthalb Mal so häufig arbeitslos wie Männer. Die knapp 30% der Frauen, die am Arbeitsmarkt sind, sind in großen Teilen in der Landwirtschaft beschäftigt, und das heißt: oft in schlecht bezahlten Tätigkeiten oder sogar ohne Lohn in Familienbetrieben.
Die Türkei versucht sich seit Jahren in der Kunst in zwei Welten gleichzeitig zu existieren - in einer, in der die Regierung auf die großen Fortschritte bei der technischen und wirtschaftlichen Modernisierung des Landes pocht und in einer anderen, in der für viele Frauen das Rad der Zeit immer weiter zurückgedreht werden soll.
Liebe Cânân Arın, gerade in den 2000er Jahren warst du eine zentrale Akteurin, die rechtliche Gleichstellung von Frauen in der Türkei vorantrieb. Sehr viel wurde bewirkt und viele Reformen aus der Anfangszeit der AKP-Regierung haben auf dem Papier heute noch Gültigkeit.
Nur, die Realität sieht anders aus. Obwohl Abtreibung in der Türkei seit 1983 legal ist, ist sie heute für viele Türkinnen fast unmöglich geworden. Der Grund: viele staatliche Krankenhäuser weigern sich schlicht, die Frauen zu behandeln; in einer Umfrage von 2017 gaben lediglich 7,8% aller staatlichen Kliniken an, eine Abtreibung durchzuführen. Selbst bei erwachsenen Frauen wird die Zustimmung der Familie oder des Partners verlangt. Und für große Teile der weiblichen Bevölkerung ist der Gang in eine private Klinik einfach zu teuer.
Ähnlich verhält es sich mit der Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Die Konvention des Europarats zur Verhütung häuslicher Gewalt heißt in der Kurzform Istanbul Konvention, nach der Stadt ihrer Verabschiedung benannt. Und die Türkei war 2012 der erste Staat, der das Vertragswerk ratifizierte - immerhin sieben Jahre vor der Schweiz.
Die Ratifizierung der Konvention durch die Türkei war ein Erfolg von Cânân und ihren Mitstreiterinnen, ebenso wie Reformen des Zivil- und Strafrechts zum Thema Gewalt. Dass Frauen sich heute mit einer einstweiligen Verfügung gegen gewalttätige Ex-Partner schützen können, ist nur eine der Reformen der letzten Jahre, die Cânân zu verdanken sind.
Gewalt gegen Frauen ist, wie überall, auch in der Türkei ein großes gesellschaftliches und politisches Thema. In regelmäßigen Abständen machen Geschichten von Femiziden im Land Schlagzeilen, nicht selten kommen die Täter mit keinen oder leichten Strafen davon.
Die Anteilnahme an diesen Fällen in der türkischen Öffentlichkeit ist mittlerweile enorm!
Doch auch Angriffe auf die Istanbuler Konvention sind massiv. Im letzten Jahr haben religiöse Orden und Politiker der AKP erneut versucht, aus der Istanbul-Konvention auszutreten, weil sie „die Familie zerstöre“. Das traf auf den entschiedenen Widerstand der Frauen, nicht nur von links, sondern selbst aus konservativ-islamischen Kreisen. Zwar sägen Teile der Regierungspartei weiter fleißig an dem Vertragswerk, wollen die Regierung zum Austritt bewegen, aber bisher haben der öffentliche Druck und der konsequente Einsatz von Cânân und den Frauenorganisationen ausgereicht, um das zu verhindern.
Zusammenhalt und Zusammenarbeit – das ist eh das Erfolgsrezept der türkischen Frauenbewegung. Und das ist nicht trivial, denn auch in der türkischen Frauenbewegung gibt es Divergenzen politischer und ideologischer Art, unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen. Aber der Gleichstellungsgedanke, der Kampf gegen Gewalt, der eint.
Die Demonstrationen jedes Jahr zum 8. März in der Türkei sind gewaltige Manifestationen dieses Willens nach Veränderung und ein Zeugnis der Widerständigkeit der türkischen Frauen. Sie lassen sich eben nicht nehmen, was sie so mühsam erstritten haben.
Stellvertretend für diese breite und mutige Bewegung ehren wir heute Cânân Arın, gerade, weil sie selbst sagt, dass ihre Verdienste auch die Verdienste der Bewegung sind.
Du, liebe Cânân, weißt hautnah, was Einschüchterung, körperliche Bedrohung und rechtliche Angriffe heißen. Der Kampf für mehr Freiheiten und Frauenrechte in der Türkei war selten ohne Gefahr. Die Beschneidung der Rede- und Meinungsfreiheit hast du mannigfach erlebt. Religiöse Werte verletzt oder den Staatspräsidenten verunglimpft zu haben, sind dir wohlbekannte Anschuldigungen und auch Anklagen der Staatsanwaltschaft. Eine dieser Anklagen – 2011 nach einem Vortrag gegen die Verheiratung Minderjähriger in Antalya, als unbekannte Männer plötzlich den Saal stürmten – hast bis nach Straßburg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getragen, um Gerechtigkeit zu erfahren.
Es steht zu befürchten, dass sich die politische Situation in der Türkei nicht zugunsten von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ändern wird. Mutige, unerschrockene Frauen wie du, Cânân Arın, riskieren sehr viel und gleichzeitig seid ihr Vorbild, Mutmacherinnen und Inspiration.
Was wir mit dem Anne-Klein-Preis können und was Anne wollte: diese ungeheure Lebensleistung, von dir, liebe Cânân, zu würdigen, solidarisch zu sein, dir unsere Bewunderung und Ehre zu erweisen. Die Jury des Anne Kleinpreises freut sich mit dir, liebe Cânân!
Und hiermit übergebe ich an die Laudatorin des heutigen Abends Dilek Mayatürk.
Sie ist Lyrikerin und Dokumentarfilmerin. Geboren 1986 in Istanbul, studierte sie in ihrer Heimatstadt und in Klagenfurt Soziologie. Als Dokumentarfilmerin und -produzentin arbeitete sie u.a. für IZ TV und die BBC. 2014 erschien ihr erster Lyrikband Cesaret Koleksiyonu („Mutsammlung“). 2020 erschien ihr erster auf Deutsch übersetzter Lyrikband: „Brache“. Für ihre Gedichte wurde sie in der Türkei mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Liebe Dilek, danke, dass du heute hier bist. Du hast das Wort.