Dissense sind das A und O für den Prozess der Endlagersuche für Dörte Themann. Was das heißt und weshalb, beschreibt sie im Gespräch mit Mareike Andert zum Thema Wissenschaft und Politik in der Endlagersuche.
„Wissenschaft hat verschiedene Aufgaben im Standortauswahlverfahren“, sagt Dörte Themann vom Forschungszentrum für Umweltpolitik an der FU Berlin: „Sie stellt evidenzbasiertes Wissen bereit, erzielt über kultivierten Streit robuste Ergebnisse, zeigt offene Fragen, Unsicherheiten und Nichtwissen sowie Grenzen von wissenschaftlichen Aussagen auf. Die Qualitätskontrolle erfolgt durch Peer Reviews oder bspw. auch auf Konferenzen. Die Wissenschaft muss darüber hinaus Kommunen und die Zivilgesellschaft dahingehend unterstützen, dass sie das Verfahren hinterfragen können. Sie muss Forschung kontextualisieren und offen für Debatten im öffentlichen Raum sein.“
Verschiedene Rollen
Wissenschaftler:innen können dabei vier verschiedene Rollen einnehmen, so Themann. „Roger A. Pielke spricht in seinem Buch “The Honest Broker” von verschiedenen Typen von Wissenschaftler:innen, wenn es um die Interaktion mit der Gesellschaft bzw. Politik geht”: Der „Pure Scientist“, der im Elfenbeinturm sitzt und wenig interagiert. Der „Issue Advocat“, der bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse in den Vordergrund rückt, was verschiedene Gründe haben kann (etwa eigene Präferenzen oder Interessen Dritter). Der „Science Arbiter“, der zur Verfügung steht, um Fragen wissenschaftlich und wertneutral zu beantworten. Und der „Honest Broker“, der sämtliche Erkenntnisse zu einem Thema aufzeigt und diese kontextualisiert, also verschiedene Optionen der Öffentlichkeit darstellt und Konsequenzen herausarbeitet ohne eigene Präferenzen oder Wertung. Im Beteiligungsverfahren der Standortsuche für ein Endlager brauche es vor allem den Honest Broker: „Die Rolle der Wissenschaft im Verfahren ist es Orientierung zu geben, die Konsequenzen verschiedener Optionen aufzuzeigen und eine informierte Debatte zu ermöglichen.“
Daraus wird auch deutlich, dass Wissenschaft keine Entscheidungen vorgeben kann. Es sei “richtig und wichtig”, dass der Deutsche Bundestag an drei Stellen im Verfahren über das weitere Vorgehen per Gesetzesbeschluss entscheide. Dabei handelt sich um die Entscheidung der obertägig zu erkundenden Gebiete, über die untertägig zu erkundenden Gebiete sowie den Beschluss zum finalen Endlagerstandort. „Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, in der Wissenschaftler:innen keine Repräsentant:innen sind, sondern Wissen bereitstellen. Würden sie entscheiden, dann hätten wir eine Technokratie. Das ist Gift für jede Demokratie.“
Die Politik muss offene Ohren haben
Die Politik müsse bereit sein, die wissenschaftlichen wie öffentlichen Auseinandersetzungen in ihre Abwägungen einzubeziehen und Räume hierfür breit zu öffnen, so Themann. Jenseits von Wissenschaft und Politik spielten weitere Akteur:innen eine wichtige Rolle, die die Politik mit einbeziehen müsse: das Nationale Begleitgremium (NBG), Zivilgesellschaft, die Öffentlichkeit. „Die Politik muss sensibel sein für die verschiedenen Diskurse und auch für Dissense ein offenes Ohr haben.“ Wichtig sei, dass die wissenschaftlichen Optionen mit ihren verschiedenen ethischen, politischen und gesellschaftlichen Implikationen diskutiert werden. Auch müsse Wissenschaft und Politik unterschiedliche Arten von Wissen anerkennen: neben dem akademischen auch das Wissen der Zivilgesellschaft, insbesondere der Anti-AKW Bewegung, sowie regionales Wissen oder auch Alltagswissen. Durch das Einbeziehen unterschiedlicher Wissensarten und Teilöffentlichkeiten können im öffentlichen Diskurs auch Hinweise für noch bestehende Erkenntnisdefizite geliefert werden.
Themann hebt den Wert von Dissensen für das Verfahren stark hervor. „Dissense sind wichtig, um überhaupt hinterfragen und reflektieren zu können, wie es im Standortauswahlgesetz vorgeschrieben ist, sonst wäre Reversibilität unmöglich.“ Dissense innerhalb von Fachcommunities oder den öffentlichen Fachforen könnten aufzeigen, wo Ungewissheiten und offene Fragen liegen, und wo Verbesserungen nötig sind. Die Öffentlichkeit müsse mit einbezogen werden, wie mit Unsicherheiten umgegangen wird. „Gerade mit Blick auf die Vergangenheit ist der offene Umgang mit Dissensen wichtig. In Gorleben gab es einen interessengeleiteten Dissens, der dafür sorgte, dass kritische Stimmen ausgeschlossen wurden. Jetzt müssen Gegenstimmen wertgeschätzt werden. Sie machen das Verfahren robuster. Die öffentliche Austragung und Umgang mit Dissensen kann Vertrauen aufbauen.“
Dissense sind das A und O
Um eine plurale und kritische Debatte zu ermöglichen, muss Dissens institutionalisiert werden, findet Themann. „Es braucht pluralistische Beratungsformate. Im anstehenden Fachforum und im NBG muss Dissens Raum gegeben werden.“ Das NBG habe bereits öfter einen Dissens aufgeworfen: „2018 hat das NBG einen Workshop zu den Ausschlusskriterien veranstaltet, wo Professor Hübscher von der Universität Hamburg seine Forschung über Eisauflasten durch zukünftige Kaltzeiten vorstellte. Er hat dadurch auf weiteren Forschungsbedarf für die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) aufmerksam gemacht.“ Oder: Das NBG organisierte einen kritischen Dialog zwischen den Staatlichen Geologischen Diensten und der BGE zum Zwischenbericht Teilgebiete. „So fand ein tieferer Austausch zum Vorgehen der Ausweisung der Teilgebiete statt.“ Neben solchen öffentlichen Arenen für Dissense müssen auch genug wissenschaftliche Expertise und finanzielle Ressourcen für zivilgesellschaftliche Akteur:innen vorhanden sein, um überhaupt (Gegen-)Expertise einholen zu können. Zur Institutionalisierung von Dissens könne auch ein Scientific Board für das NBG und das Fachforum beitragen. „Denn die BGE schreitet schnell voran. Durch ein Scientific Board könnte die Zivilgesellschaft besser mithalten. Auch könnte auf der Ebene eine Art Honest Broker institutionalisiert werden“, erklärt Themann.
Verschiedene Wirtsgesteine und verschiedene Behälterkonzepte werden erforscht, um das bestmöglich sichere Endlagerkonzept zu entwickeln. Es sei sehr wahrscheinlich, dass am Ende mehrere Standorte geeignet scheinen und miteinander verglichen werden. Gleichzeitig: „Wissenschaft ist selten eindeutig. Der Stand der Wissenschaft erneuert sich ständig“, erklärt Themann. “Wir werden immer wieder mit neuen Erkenntnissen und Optionen konfrontiert werden.“ Wenn der Wissensstand sich ändert, muss dieser einbezogen werden und eventuell auch ein Rücksprung gemacht werden, meint sie. All das zeige auf, warum eine kontinuierliche Öffentlichkeitsbeteiligung wichtig ist.