Mythos Atomkraft! Warum Atomkraft das Klima nicht rettet

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In Deutschland gehen 2022 die letzten Atomkraftwerke vom Netz. Während sich die deutsche Politik einig ist, dass Atomkraft keine Zukunft haben darf, ist die Debatte in Europa und weltweit eine andere. Bei der Klimakonferenz in Glasgow im Herbst 2021 wurde heftig debattiert, welche Rolle Atomkraft beim Klimaschutz einnehmen solle, der IPCC erkennt Atomstrom an und die EU-Kommission hat neben Gas auch Atomstrom als „nachhaltig“ eingestuft. Mareike Andert spricht mit Christoph Pistner über Klimaschutz, Stromkosten, unkalkulierbare Risiken der Atomkraft sowie die ungelöste Endlagerung.

Erneuerbare Energien

„Atomstrom ist – verglichen mit Braun- oder Steinkohle – CO2-arm, aber nicht CO2-frei“, erklärt Christoph Pistner, Bereichsleiter Nukleartechnik und Anlagensicherheit beim Umweltforschungsinstitut Öko-Institut. Denn vor- und nachgelagert entstehen CO2-Emissionen: “Die Uranerzgewinnung, die Uranverarbeitung, die Brennelementherstellung sowie der Bau der Atomkraftanlage mit viel Beton und schließlich der Rückbau und die Endlagerung sind sehr energieintensiv.” Wieviel CO2 durch Atomkraft so letztlich freigesetzt wird, hängt von vielen Faktoren ab, etwa wieviel Uran im Gestein enthalten ist, wo das Uran gewonnen und in welcher Anlage es angereichert wurde. Zahlen hierzu schwanken von 3,7 bis 110 CO2-Äquivalente pro Kilowattstunde. Im Vergleich: Kohle verursacht über ein Kilogramm CO2-Äquivalente pro Kilowattstunde, Gas 430 Gramm. „Spannend wird die CO2-Frage, wenn wir die langfristige Nutzung von Kernenergie betrachten: Wenn die Uranressourcen in Zukunft immer knapper werden, dann wird Erz mit geringem Uran-Gehalt dafür abgebaut, was sehr viel energieintensiver ist, und das kann die CO2-Bilanz von Atomkraft nochmal verschlechtern“, sagt Pistner. Auch das Umweltbundesamt schreibt auf seiner Internetseite: “Atomstrom ist keineswegs CO2-neutral. Die Treibhausgasemissionen sind größtenteils der Stromproduktion vor- und nachgelagert.” 

Viele Risiken - Kein Beitrag zum Klimaschutz 

Atomkraft ist zwar CO2-arm, aber keine Klimaretterin. Das hat verschiedene Gründe, so der Atomexperte Pistner: “Weltweit trägt die Atomkraft nur etwa 10 Prozent zum Strom und etwa 5 Prozent zum Primärenergieverbrauch bei. Das ist ein kleiner Beitrag.“ Befürworter:innen wollen diesen Anteil zwar massiv ausbauen, aber Pistner findet das unrealistisch. Denn Atomstrom ist ökonomisch nicht konkurrenzfähig – er ist sehr teuer. Zudem sind die Vorlaufzeiten sehr lang. “Von der Idee, ein neues Atomkraftwerk zu bauen, über die Planung und den Bau bis dann Strom fließt, vergehen mindestens 10 bis 15 Jahre.” Atomkraftwerke zu bauen, dauert also viel zu lange, als dass sie relevant zur Energiewende beitragen könnten.  

Doch ist es bei der Atomkraft längst nicht damit getan, die CO2-Bilanz zu analysieren. Die Atomkraft ist an viele Risiken gekoppelt: Erstens besteht stets die Gefahr eines Unfalls. Die Unfälle in Tschernobyl und Fukushima haben die Gefahren schmerzlich spürbar gemacht. Zweitens entstehen durch den weiteren Betrieb von Atomkraftwerken ständig neue hochradioaktive Abfälle, die über eine Millionen Jahre sicher verwahrt werden müssen. Dabei ist die Frage der Endlagerung noch nicht geklärt. Drittens besteht die Gefahr von Proliferation, also die Verbreitung von Know-How, Technik oder Materialien, mit denen Atomwaffen hergestellt werden können. Letztens gilt es auch, die schädlichen Umweltauswirkungen des Uranabbaus zu beachten. Pistner fasst zusammen:

Atomkraftwerke sind zu langsam im Bau, sehr teuer und haben ein hohes Risiko: Unfälle, Entsorgung, Weiterverbreitung von Kernwaffen. Diese Aspekte verschlechtern die Bilanz stark.

Warum setzen dann so viele Länder, etwa Frankreich, auf die Atomkraft? Die gängigsten Argumente laut Pistner sind: Atomkraft liefere eine Grundlast und könne damit die Versorgungssicherheit sicherstellen. Denn erneuerbare Energien sind fluktuierende Energieträger und brauchen flexible Netze, Lastenmanagement, Ladekapazitäten. Außerdem werde Hoffnung in Mini-Reaktoren gesetzt, die Atomkraft sicherer und billiger machen sollen. Schließlich müsse man bei manchen Ländern als Grund für die Befürwortung von Atomkraft auch eine militärische Nutzung befürchten. Und die Kernenergie gilt in vielen Ländern immer noch als Hochtechnologie und gehe darum mit internationalem Status einher. 

Neue Reaktoren – alte Probleme 

Was hat es mit den Mini-Reaktoren oder auch SMR (Small Modular Reactors) auf sich? Befürworter:innen von Mini-Reaktoren hoffen, dass durch diese neuen Konzepte die Kosten durch serielle Herstellung reduziert werden können und dass durch vereinfachte Anlagen die Sicherheit erhöht werde, erklärt Pistner. Bei den Kosten sieht er große Fragezeichen, da die Einsparpotenziale gegenüber Großreaktoren überhaupt nur zum Tragen kommen könnten, wenn sehr viele solcher Reaktoren gebaut würden. Ob Mini-Reaktoren sicherer sein werden, sei noch schwer abzuschätzen. Zwar ist in kleineren Anlagen weniger radioaktives Material, aber bei einem Unfall würde dies auch freigesetzt werden. Zudem würde es dann viele solcher Anlagen geben, womit das Risiko eines Unfalls steige. Das Risiko, das von Erdbeben oder Terrorismus ausgeht, bleibt auch bei Mini-Reaktoren bestehen. Es reiche nicht zu argumentieren, dass die Unfallrisiken vielleicht niedriger seien und der Bau und Betrieb billiger, stellt Pistner klar:

Bei einem Unfall würden auch Mini-Reaktoren große Flächen kontaminieren und große Folgekosten verursachen. Auch nukleare Verbreitung (Proliferation) und Endlagerung bleiben als Probleme bestehen.

Neben der Debatte um Mini-Reaktoren gibt es auch eine Debatte um Laufzeitverlängerungen von Altkraftwerken. Viele Länder, etwa Frankreich, haben einen großen Kraftwerkpark. Wenn Frankreich alle alten Anlagen stilllegen würde, könnten sie sie nicht schnell genug mit neuen Atomkraftanlagen ersetzen, so Pistner. Deshalb sollen sie verlängert werden. “Man darf hier nicht vergessen, dass die alten Anlagen nicht so sicher sind wie neuere”, warnt der Atomexperte. „Die wurden in den 60er Jahren des letzten Jahrtausends geplant, dann in den 70er und 80er Jahren gebaut.” In Frankreich sollen die alten Atomkraftanlagen zehn bis 20 Jahre länger laufen. In den USA wolle man die Laufzeit auf bis zu 80 Jahre strecken. In alten Kraftwerken könne die Sicherheit zwar erhöht werden, aber “wir müssen uns im Klaren sein, dass sie nie die Sicherheit erreichen werden wie jüngere.”  

Die Diskussion um neue Reaktortypen und deren potenziell verbesserte Sicherheit überlagere die Diskussion um Laufzeitverlängerungen. „Wenn die Mini-Reaktoren nicht auf den Markt kommen sollten, dann spielen Laufzeitverlängerung nochmal eine größere Rolle und dürfen deshalb nicht vergessen werden“, findet Pistner. Egal ob Laufzeitverlängerung oder Mini-Reaktoren – die Atomkraft ist immer an Risiken gekoppelt.  

“Ich finde es Unsinn zu sagen: Klimawandel oder Atomstrom. Das ist nicht die Frage. Aus dem Gesichtspunkt der Klimakrise müssen wir aus Kohle und Gas aussteigen. Dann lautet die Frage: Atom oder erneuerbare Energien. Die Erneuerbaren sind günstiger, technisch möglich und sicherer. Es gibt kein Argument, warum man zwingend auf Atomkraft angewiesen ist. Ziehen wir die Risiken mit ein, dann ist die Entscheidung für mich klar – Atomkraft ist keine Lösung.” Von der Entscheidung der EU, Atomstrom als „nachhaltig“ zu labeln, hält Pistner nichts.

Für mich ist ganz klar – das geht nicht. Es macht keinen Sinn, Atomkraft als nachhaltig einzustufen.

Der Ansicht, dass Atomkraft nicht das Klima rettet, ist auch Christian von Hirschhausen, Forschungsdirektor in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Von Hirschhausen sagte in einem Interview im DIW Wochenbericht im November 2021: „Kernkraft kann für die Bekämpfung der Klimakrise weder im aktuellen Technologiestadium noch in einem zurzeit in der Grundlagenforschung stehenden Technologiestadium relevant sein. Kurzfristig sind die bestehenden Kraftwerke der sogenannten Generation drei plus zu teuer und auch ihre Planung würde sehr lange dauern. Vor 2050 stünden sie praktisch nicht bereit. Die derzeit diskutierten SMR-Konzepte oder sogenannte neuartige Reaktoren sind für die gegenwärtige Klimakrise irrelevant, weil wir hier von Forschungs-, Umsetzungs- und Produktionszyklen von zwei bis drei Jahrzehnten sprechen, eventuell sogar länger. 

Atomausstieg wichtig für die Endlagersuche 

In dem Wochenbericht “Atomwende: Abschaltung von Kernkraftwerken eröffnet Perspektiven für die Endlagersuche beschäftigen sich mehrere Wissenschaftler:innen mit der Abschaltung der Atomkraftwerke und der Endlagersuche:  Sie kommen zum Ergebnis, dass die Abschaltung der verbleibenden sechs Atomkraftwerke in Deutschland energiewirtschaftlich unproblematisch sei. Die Versorgungssicherheit bleibe gewährleistet, da kurz- und mittelfristig ausreichend Kapazitäten vorhanden seien. Außerdem legen sie dar, dass durch den Wegfall von Atomstrom die CO2-Emissionen wahrscheinlich zunächst steigen werden. „Die Strommenge der sechs verbleibenden Kernkraftwerke beträgt etwa 60 Terawattstunden. Wir haben modellbasiert ermittelt, dass der Ersatz in Deutschland sowie geringfügig ansteigende Importe im Jahr 2023 zu einem Anstieg der CO2-Emissionen von etwa 40 Millionen Tonnen führen. Das ist nicht gut, es ist aber vor dem Hintergrund der Gefährlichkeit von Kernkraft hinzunehmen”, sagt von Hirschhausen im genannten DIW-Wochenbericht. Um möglichst wenig zusätzliche Emissionen zu erzeugen, müsse deshalb der Ausbau der Erneuerbaren vorangetrieben werden, fordern die Wissenschaftler:innen: Der Anstieg der CO2-Emissionen sei ein kurzfristiger Effekt, so von Hirschhausen, wenn Erneuerbare beschleunigt ausgebaut werden. „Wichtig ist hierbei nicht nur die Beschleunigung des Kohleausstiegs, sondern auch die Beschleunigung des Erdgasausstiegs. Wir müssen aus fossilem Erdgas genauso aussteigen wie aus der Kohle, wenn wir die Klimaschutzziele in Deutschland, in Europa oder weltweit einhalten möchten.”  

Auch für ein erfolgreiches Standortauswahlverfahren für die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle sei der Atomausstieg zentral, heißt es in dem Papier. Denn die “Beendigung der kommerziellen Nutzung der Kernenergie ist eine Bedingung für die Akzeptanz der Endlagersuche. Das hat das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, das sogenannte BASE, schon vor 20 Jahren festgestellt und das gilt heute genauso. Das Ende der kommerziellen Kernenergie ist existenzieller Bestandteil der Energiewende und es ist völlig undenkbar, dass wir in zehn Jahren in die Regionen gehen und einen Endlagerstandort festlegen, ohne die Abfallmenge gedeckelt zu haben”, erklärt von Hirschhausen. Um Klimaschutz zu gewährleisten, müssen europaweit Subventionen für Atomkraft gestrichen und nicht neu eingeführt werden, so die DIW-Wissenschaftler:innen. 

Energieeffizienz und Energiesparen - ja bitte! 

Es bestehe dann insbesondere die Gefahr, sagt Pistner vom Öko-Institut, dass Atomkraft als eine Ausrede genutzt werde, um den Ausbau der erneuerbaren Energien - Wind, Sonne, Wasser - nicht voranzutreiben. „Manche Staaten haben einen großen Nachholbedarf, da sie noch viel Kohle verstromen. Wenn sie auf Kerntechnik setzen, dann investieren sie das Geld nicht an der richtigen Stelle.“ In Deutschland müssten die Erneuerbaren massiv ausgebaut werde: “Technologisch sind sie verfügbar, es müssen nun die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Gleichzeitig muss der Netzausbau vorankommen. Je größer das System desto besser kann es Unregelmäßigkeiten abfedern. Kurz- und Langzeitspeicher müssen geschaffen werden”, fordert er. „In Zukunft werden neue Sektoren Strom brauchen. Deshalb braucht es power to x, also das Energie in chemische Energieträger - Wasserstoff – umgewandelt wird, um sie dann später zu verwenden. Es brauche jedoch nicht nur eine andere Art der Energiegewinnung, sondern der „Energiehunger“ müsse in allen Sektoren begrenzt werden.

Energieeffizienz und Energiesparen sind die beste und die günstige Variante. Wenn ich keine Energie verbrauche, produziere ich kein CO2

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Portrait Dr. Christopf Pistner

Dr. Christoph Pistner ist Bereichsleiter für Nukleartechnik & Anlagensicherheit beim Öko-Institut. Seine Expertise ist die Erstellung von Gutachten und Stellungnahmen vor allem zu folgenden Themen: Anlagensicherheit und Systemanalyse, Ereignisauswertung, kerntechnisches Regelwerk, anlageninterner Notfallschutz, neutronenphysikalische Analysen, nukleare Nichtverbreitung und nuklearer Terrorismus, Technikfolgenabschätzung.

Er ist Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) sowie im Ausschuss Anlagen- und Systemtechnik (AST) der RSK; Mitglied im Facharbeitskreis Probabilistische Sicherheitsanalyse für Kernkraftwerke (FAK PSA); Vorstandsmitglied im Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).

Aktuelle Publikationen von Dr. Christoph Pistner