Ukraine: Der Krieg ist zum perversen Alltag geworden

Analyse

Der Krieg ist oft nicht sichtbar in der Ukraine, aber er durchdringt alles. Der Alltag ist von Angst, Entbehrung und Widerstand geprägt. Und nach dem Krieg drohen innergesellschaftliche Konflikte aufzubrechen.

Foto: Eine Gedenkwand mit zahlreichen Porträtfotos verstorbener Soldat*innen. Davor stehen Blumen und Kränze. Ein Gehweg führt entlang der Wand.
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Der Krieg mit seinem Blutzoll Zehntausender bleibt eine schwere Last für die ukrainische Gesellschaft – heute und für die Zukunft.

Das Städtchen wirkt auch in Kriegszeiten friedlich, gar ein bisschen schläfrig. Für Aufregung sorgen nur drei Streunerhunde, die vorbeifahrende Autos mit Gebell verfolgen. Kamjanez-Podilskyj, dieser kleine touristische Magnet in der Westukraine, bietet Kirchen und Klöster, malerische Gässchen, Cafés und Souvenirbuden voller Holzschwerter und Strickmützen. Hinter der katholischen Peter-und-Paul-Kathedrale öffnet sich der Blick über die Schlucht des Flusses Smotrytsch auf die majestätische Burg. Ein Stein steht hier wie ein Mahnmal, verziert mit wenigen Worten aus einem Gedicht des Nationaldichters Taras Schewtschenko: „Ich bete im Stillen zu Gott, dass alle Slawen gute Brüder werden, Söhne der Sonne der Wahrheit.“ Die Zeilen von 1845 galten dem böhmischen Reformator Jan Hus. Aber sie klingen, als seien sie für diese Zeit geschrieben, da Russland einen aggressiven Angriffskrieg gegen seinen slawischen Nachbarn Ukraine führt.

Der Krieg in der Ukraine setzt den Menschen im ganzen Land zu

Der Krieg ist oft nicht sichtbar in der Ukraine, aber er durchdringt alles. Flugalarm und das Aufheulen der Sirenen in der App „Air Alert“ der Mobiltelefone gehören zum Alltag. Oft wird der Alarm ignoriert, weil ein ständiger Wechsel zwischen Büro, Schlafzimmer und Luftschutzkeller auf Dauer unerträglich ist. Allein Kyjiw, die vermutlich bestgeschützte Stadt in der Ukraine, verzeichnete im vergangenen Jahr insgesamt 530 Stunden Flugalarm. Regionen, die nahe an der Grenze zu Russland oder der Front liegen, sind auf der Alarmkarte in Dauerrot gefärbt. Hier herrscht fast ständig Ausnahmezustand.

Knapp die Hälfte der Ukrainer*innen bezeichnete ihren Zustand in einer Umfrage kürzlich als „sehr schlecht“. Tägliche Angstzustände, Apathie, Motivationsverlust und der Stress durch die ständige Ungewissheit setzen den Menschen zu. Der Krieg ist längst zum perversen Alltag geworden. Stärker als der häufige Beschuss beunruhigt die Menschen mittlerweile der Preisanstieg für viele Waren. Immerhin ist es bisher gelungen, die befürchtete Energiekrise in Grenzen zu halten. Der gezielte russische Beschuss der ukrainischen Infrastruktur hat die Ukrainer*innen gelehrt, Kraftwerke und Leitungsnetze besser zu schützen und schnell und kreativ zu reparieren. Der verhältnismäßig warme Winter half bislang zusätzlich.

Sichtbar wird der Krieg, wo es Zerstörungen und Tote gab. In den Städten und Dörfern des Landes entstehen oft an zentralen Plätzen Gedenkstätten für die Gefallenen mit ukrainischen Fahnen, großformatigen Fotos der Toten in Camouflage-Kleidung, biographischen Texten und Blumen und Kränzen als Zeugnis des Kämpfens und Leidens. Manchmal stehen diese Gedenkorte nicht weit entfernt von den wuchtigen Mahnmalen aus der Sowjetzeit zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Oft blieben diese Kriegsdenkmäler verschont von der Dekommunisierung, die bereits manche Relikte der Sowjetunion geschleift hat. Für viele Einwohner*innen gehören sie zum Ort und dessen Identität. Aber manches sowjetische Kriegsdenkmal ist längst mit ukrainischen Fahnen umgewidmet worden für den Befreiungskampf gegen die russischen Angreifer.

Wir haben keine andere Möglichkeit, als Widerstand zu leisten.

Dieser ungebrochene Widerstandsgeist nach drei Jahren Krieg und die Energie und auch Selbstlosigkeit vieler Ukrainer*innen beeindrucken ausländische Besucher*innen tief. „Wir haben keine andere Möglichkeit, als Widerstand zu leisten“, heißt es oft recht unpathetisch auf Nachfragen. Denn alles andere würde das Ende der Souveränität der Ukraine und der Freiheit der Menschen bedeuten. So setzen sich viele in der Ukraine für eine demokratische Gesellschaft und für eine gemeinsame europäische Perspektive mit einer Kraft ein, an der es in manchem westeuropäischen Land schon lange zu mangeln scheint.

Der Krieg reißt Wunden – und neue Konflikte brechen auf

Aber der Krieg mit seinem Blutzoll Zehntausender bleibt eine schwere Last für die ukrainische Gesellschaft – heute und für die Zukunft. Er hat schon jetzt eine demographische Lücke gerissen. Jährlich übersteigt nach offiziellen Angaben die Zahl der Toten die Zahl der Geburten um mehr als 250.000. Prognosen benennen die Zahl benötigter Arbeitskräfte in Millionen. Vertreter*innen der Wirtschaft klagen über die Folgen der forcierten Mobilisierung, die laut Gesetz Männer ab 25 Jahren treffen kann. Denn an der Front fehlen Soldat*innen. Für 18- bis 24-Jährige bereitet die Regierung jetzt spezielle Jahresverträge mit hohen Gehältern und Privilegien vor, um den Armeedienst auch vor dem Mobilisierungsalter attraktiv zu machen. Vor einer Absenkung des Wehrdienstalters schreckt sie zurück.

Denn es ist ein schwieriger Balanceakt, die soldatischen Ränge aufzufüllen, ohne der Wirtschaft des Landes zu viel Kraft zu nehmen und ohne das Gefühl einer ungerechten Lastenverteilung im Krieg zu verstärken. Allerdings arbeiten die Wehrersatzämter, die für die Suche nach Rekrut*innen zuständig sind, oft intransparent und willkürlich. Sie gehen vor Kneipen oder Einkaufszentren auf Männerjagd, verbreiten Furcht und Wut. Videos von Männern, die vor den Kontrollen halsbrecherisch flüchten oder sich auf Prügeleien mit den Militärs einlassen, verbreiten sich in den Nachrichtenchats. Anfang Februar explodierte ein Sprengsatz in einem Wehrersatzamt des scheinbar friedlichen Tourismusstädtchens Kamjanez-Podilskyj, tötete einen Menschen und verletzte drei weitere.

Nach einem Kriegsende werden Konflikte aufbrechen, die jetzt hinter der allgemeinen Solidarität zurücktreten.

In diesem Jahr sind bereits neun Anschläge auf solche Ämter verübt worden. Die Polizei erkennt dahinter das Werk russischer Geheimdienste mit dem Ziel, die Ukraine zu destabilisieren. Denn die Ämter bergen sozialen Sprengstoff: Sie suchen nicht nur mit zuweilen groben Methoden nach neuen Rekrut*innen für die Armee, sie haben auch einen schlechten Ruf als Hort der Korruption. Häufig werden Fälle publik, in denen sich Mitarbeitende offensichtlich durch den Verkauf von Freistellungen vom Wehrdienst oder anderen Dokumenten bereichert haben. Dass solche Korruptionsfälle immerhin aufgedeckt und verfolgt werden, ist einer Schar investigativer Journalist*innen und einer mutigen Zivilgesellschaft zu verdanken. Es beweist, wie wach und selbstbewusst die ukrainische Gesellschaft auch nach drei Jahren Krieg geblieben ist. Ihre Kraft wird sie auch in Zukunft brauchen.

Der existenziellen Bedrohung durch den Angriffskrieg dürften weitere Herausforderungen folgen: Nach einem Kriegsende werden Konflikte aufbrechen, die jetzt hinter der allgemeinen Solidarität zurücktreten. Familien, die Kämpfende gestellt und Angehörige verloren haben, stehen denjenigen oft skeptisch gegenüber, denen der Krieg nur geringe Opfer abverlangte oder die gar das Land verlassen haben. „Gerechtigkeit“ wird einer der Schlüsselbegriffe für den sozialen Frieden in der Nachkriegsordnung sein. Millionen von Veteran*innen kehren in die Gesellschaft zurück und müssen einen Platz finden, der ihnen eine sinnvolle Aufgabe für die Entwicklung der Ukraine in Friedenszeiten und das Gefühl vermittelt, dass ihr Opfer nicht umsonst war und allgemein Anerkennung findet. Viele der geschätzt knapp vier Millionen Binnenflüchtlinge sind an ihren neuen Wohnorten nicht gut integriert und erfahren ungenügende Unterstützung. Manche kehren sogar aus Verzweiflung in die von russischen Truppen besetzte Heimat zurück – nicht selten, um diesen Schritt bald zu bereuen.

Denn die russischen Besatzer haben die Gebiete im eisernen Griff. Sie verfolgen alle, die sich proukrainischer Sympathien verdächtig machen. Sie zwingen die Menschen zur Annahme eines russischen Passes, wie die ukrainische Menschenrechtsorganisation Smina berichtet. Wer sich sträubt, werde eingeschüchtert oder bedroht, erhalte keine medizinische Versorgung oder Rente, keine Lizenz für wirtschaftliche Tätigkeit, werde zwangsweise in die Armee eingezogen oder festgenommen und abgeschoben. Seit dem 1. Januar droht allen, die nicht die russische Staatsangehörigkeit annehmen wollen, sogar die Enteignung ihres Besitzes. Allein im vergangenen Jahr wurden in den besetzten Gebieten von Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja mehr als zwei Millionen Menschen eingebürgert. Mit der systematischen Russifizierung und der parallelen Ansiedlung von Kriegsteilnehmenden und Menschen aus dem russischen Hinterland sollen Fakten geschaffen werden, bevor es zu Verhandlungen und einem Kriegsende kommt.

Die Kriegsmüdigkeit greift um sich

Eine Friedensregelung ist aus ukrainischer Sicht kein Tabuthema mehr. Die Kriegsmüdigkeit greift um sich: Meinungsumfragen zeigen, dass die Zahl der Ukrainer*innen, die Verhandlungen mit Russland grundsätzlich unterstützt, stetig wächst und womöglich bereits die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyi ist vorsichtig von früheren Maximalforderungen wie der Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen von 1991 abgerückt. Die Realität der späten und zögerlichen westlichen Waffenunterstützung, der Gefahr einer Überdehnung der ukrainischen Armee und des Vorrückens russischer Truppen vor allem im Gebiet von Donezk verlangen nach mehr Flexibilität.

Die Ukraine muss belastbare Sicherheitsgarantien für die Zukunft, am besten in Form der Nato-Mitgliedschaft, erhalten.

Auch die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten forderte eine Neuorientierung der ukrainischen Politik. Selenskyi versucht seither, frühere Fehler zu vermeiden und von Anfang an einen guten Kontakt zu Trump zu suchen. Dabei wurde dessen Wiederwahl in der Ukraine weniger negativ betrachtet als in Deutschland. Zu tief sitzt die Enttäuschung über den zögerlichen Kurs des Vorgängers Joe Biden. An die erste Amtszeit Trumps bestehen zudem keine schlechten Erinnerungen, da er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Barak Obama dringend gewünschte Waffensysteme wie die Panzerfaust Javelin an die Ukraine liefern ließ. Es besteht die Hoffnung, dass Trumps Unvorhersagbarkeit auch zugunsten der Ukraine ausschlagen könnte. Die ukrainische Regierung bemüht sich deshalb in einer Charmeoffensive, jene Deals vorzuschlagen, die der US-Präsident so liebt. Dazu gehört das Angebot, in einer ukrainisch-amerikanischen Win-Win-Gemeinschaft ukrainische Bodenschätze auszubeuten und zu verarbeiten. Dass ein großer Teil dieser Ressourcen in der Ostukraine unter russisch besetztem Boden liegt, stellt einen zusätzlichen Anreiz zu Verhandlungen über den Austausch von Territorien nach Kriegsende dar.

Wie ein Friedensabschluss letztlich aussehen könnte, bleibt aber noch völlig unklar. Offensichtlich ist, dass die Ukraine belastbare Sicherheitsgarantien für die Zukunft, am besten in Form der Nato-Mitgliedschaft, erhalten muss. Die Souveränität und demokratische Entwicklung des Landes und der Weg der europäischen Integration sind in den Verhandlungen festzuschreiben. Die Hauptlast der Verantwortung und Kosten kommt hier auf die Europäische Union und befreundete Nationen zu, und Halbherzigkeit wird nicht ausreichend sein. Denn sonst droht die Gefahr, dass sich der Aggressor Russland belohnt sieht und sich die ukrainische Bevölkerung aus Enttäuschung vom Westen abwendet. Dies wäre eine kapitale Niederlage für die Ukraine und das freiheitlich denkende Europa.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de